Es ist ein Abschiedsbesuch, der zu keiner einzigen Minute wie ein Abschiedsbesuch aussehen soll. Natürlich gibt es ein Festbankett, wie bei einem Ausstand, natürlich gibt es noch mal eine Ehrendoktorwürde, wie ein Abschiedsgeschenk – aber selbstredend sei die Agenda des Besuches von Kanzlerin Angela Merkel bei US-Präsident Joe Biden ganz in die "Zukunft gerichtet", betonte eine Sprecherin des Weißen Hauses.
Nur: Zukunft kann diese Frau nicht mehr gestalten, sie ist nun eine lame duck, eine lahme Ente. Merkel kann höchstens noch am Ende einer langen Arbeitsbeziehung das wegräumen, was die Amerikaner unfinished business nennen, die unerledigten Sachen: Etwa US-Irritationen über die umstrittene Gaspipeline Nordstream 2 zumindest besänftigen, an der Merkel auch gegen Widerstand in Deutschland (zu?) unbeirrt festgehalten hat. Vielleicht endlich erreichen, dass Europäer – und vor allem die Mitarbeiter europäischer Firmen – wieder in die USA einreisen können, wie Amerikaner es umgekehrt in Europa können. Und eventuell besprechen, ob der Afghanistan-Einsatz nun einfach vergessen werden soll oder sich nicht doch Lehren aus dieser gefühlt ewigen Kraftanstrengung ziehen lassen.
Deutsch-amerikanische Beziehungen: Die Trump-Jahre stellen eine Zäsur dar
Es werden keine Tränen fließen, wie einst bei Merkels Abschied von Barack Obama. Das liegt auch daran, dass eine neue Ernüchterung in das transatlantische Verhältnis eingekehrt ist. Schon früher wussten die Partner, selbst die Deutschen, dass es Hochs und Tiefs in dieser Beziehung gab, dass Amerika mal wahnsinnig mit der Welt beschäftigt war und mal wahnsinnig mit sich selber. Aber die Trump-Jahre stellten eine Zäsur dar, in denen aus Partnern fast Feinde wurden. In denen die multilaterale Weltordnung angreifbar erschien. In denen die US-Gesellschaft sich zutiefst zerrissen zeigte.
Diese Wunden sind nicht verheilt, ganz gleich, wie viel freundlicher Biden auftritt. Denn Amerika ist noch nicht geheilt. Und kein Partner weiß sicher, ob nicht schon nächstes Jahr – wenn bei den Kongresswahlen die knappe Mehrheit der Demokraten wanken könnte – die Trump-Kräfte (die ja nicht allein von ihm herrühren, sondern tiefer wurzeln) wieder die Oberhand gewinnen. Die gemeinsame Vertrauensbasis zwischen Deutschland und Amerika ist erschüttert.
Die Menschheit hat in der Corona-Krise insgesamt versagt
Aber auch das Selbstvertrauen in die Handlungsfähigkeit des Westens ist erschüttert. Jeder Staatsbesuch auf dieser Ebene wirft die Frage auf, ob die Kraft für Menschheitsanstrengungen reicht. Deutschland und die USA taten sich schon im eigenen Land schwer mit der Corona-Krise. Aber schlimmer noch: Die Menschheit hat insgesamt versagt, dieser Weltkrise Herr (oder Frau) zu werden. Für die Ausstattung jenes globalen Corona-Fonds, mit dem Behandlungen und Impfungen weltweit finanziert werden sollen, sind bislang 16,8 Milliarden Euro geflossen. Das entspricht 0,1 Prozent des Betrages, den (reiche) Staaten insgesamt in dieser Krise aufgewendet haben. Rund dreiviertel der Impfstoffe sind bislang in nur zehn Ländern des Planeten verabreicht worden.
Wohlgemerkt: Corona war eine Krise, die jedem direkt vor Augen stand, die unmittelbar greifbar war. Die nächste Menschheitskrise – der Kampf gegen den Klimawandel, über den Biden und Merkel auch sprechen werden – ist noch mühsamer, noch schwerer greifbar. Man will es nicht glauben, wenn so viel Macht im Weißen Haus aufeinandertrifft. Aber es sind ernsthafte Zweifel erlaubt, ob die Menschheit (und der Westen) die Kraft für einen Klima-Kraftakt aufbringen. Daher wird es nicht nur ein nüchterner Amerika-Abschiedsbesuch von Angela Merkel. Es könnte sogar ein ernüchternder werden.