Manchmal dauert es etwas länger, bis sich eine Lebenslüge als das entpuppt, was sie ist: eine Lüge eben. Gleichzeitig gilt aber auch, dass es sich mit Lebenslügen eine Zeit lang ganz passabel leben lässt. So ist es mit dem weltweit einzigartigen Konstrukt "Ein Land, zwei Systeme", das das Verhältnis zwischen Festlandchina und Hongkong beschreibt. Hier die größte Diktatur der Erde, dort das wirtschaftsliberale Hongkong, das zumindest einige demokratische Elemente aufweist. Eine Sonderzone, in der es – wie gerade Tag für Tag zu besichtigen – Meinungs- und Versammlungsfreiheit gibt. Ein Recht, das von einer freiheitsliebenden Bevölkerung, die nicht bereit ist, sich Schritt für Schritt widerstandslos Pekings autoritärer Gesellschaftsidee anzunähern, beherzt genutzt wird.
In der Konstellation des Konflikts zwischen den beiden letztlich eben doch unvereinbaren Systemen ist die Tragödie bereits angelegt. Auf der einen Seite die Demonstranten, schwankend zwischen Wut, Mut und Hoffnungslosigkeit. Eine Mischung, die die Gefahr in sich birgt, dass diejenigen, die auch Gewalt als legitimes Mittel des Protestes ansehen, die Oberhand in der Protestbewegung bekommen – mit unabsehbaren Folgen. Viele Hongkonger sind bis aufs Blut gereizt durch die trostlosen Auftritte einer macht- und sprachlosen Regierungschefin, die sich mit ihrem Auslieferungsgesetz ohne Not selber in eine Sackgasse manövriert hat. Längst steht sie als das da, was sie letztlich ist: eine Marionette der chinesischen Machthaber.
Trump warnt vor Folgen eines Gewalteinsatzes
Doch auch der Mann, der die Fäden in seinen Händen hält, ist in einer schwierigen – ebenfalls selbst verschuldeten – Situation: Präsident Xi Jinping hat mit Truppenbewegungen und einem verlogenen Propagandafeldzug gegen die protestierenden Hongkonger in den Staatsmedien eine Drohkulisse aufgebaut, die es ihm von Tag zu Tag schwerer macht, die Krise ohne Gesichtsverlust zu meistern. Ringt er sich dazu durch, Signale der Entspannung zu senden, müsste er den Festlandchinesen erklären, warum er auf Demonstranten zugeht, die von seiner Regierung in die Nähe von Terroristen gerückt wurden. Sollte sich Peking entscheiden, mit offener oder verdeckter Gewalt die volle Kontrolle in Hongkong zu übernehmen, droht eine kaum kontrollierbare Verschärfung des Wirtschaftskrieges mit den USA und nachhaltiger Schaden für die Reputation des Landes.
So spricht derzeit vieles dafür, dass China keine dieser beiden Optionen zieht, sondern weiterhin versuchen wird, die Lage mit Drohungen und Einflussnahme hinter den Kulissen in den Griff zu bekommen. Dass dies gelingen kann, ist jedoch eher unwahrscheinlich. Immerhin kann sich Xi Jinping darüber freuen, dass der Westen darauf verzichtet, die Rolle Chinas klar und deutlich zu kritisieren und die Menschen zu unterstützen, die für demokratische Rechte kämpfen. So wie schon zu den Verbrechen an Tibetern, Uiguren und Kasachen aus Sorge vor den Folgen für den florierenden Handel mit China meist geschwiegen wird. Auch Deutschland verrät und entwertet langfristig damit die eigenen Werte. Auf eine klare, abgestimmte Haltung der westlichen Staaten warten die Demonstranten bisher vergebens. Trump, der zunächst naiv sinngemäß twitterte, dass der "liebe Xi die Sache schon menschlich lösen" werde, hat jetzt immerhin vor den Folgen eines Gewalteinsatzes gewarnt.
Doch die Uhr tickt. Spätestens 2047 erlöschen die Sonderregelungen für Hongkong. Die vage Hoffnung ist, dass Festlandchina selbst in den nächsten 28 Jahren unter stärkeren Reformdruck gerät und sich öffnet. Anhaltspunkte dafür allerdings sind nicht in Sicht.