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Kommentar: Brexit-Desaster: Regierungschaos könnte auch uns passieren

Kommentar

Brexit-Desaster: Regierungschaos könnte auch uns passieren

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    Pro-Eu-Demonstranten protestieren mit EU-Fahnen in der Nähe des britischen Parlaments gegen den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union.
    Pro-Eu-Demonstranten protestieren mit EU-Fahnen in der Nähe des britischen Parlaments gegen den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union. Foto: Frank Augstein (Symbol)

    Die spinnen, die Briten. Der Satz ist einem 2016 so leicht über die Lippen gegangen, als eine Mehrheit im Vereinigten Königreich für die Abspaltung von der Europäischen Union stimmte. Er fliegt einem heute regelrecht von den Lippen, so absurd bis albern wirkt die Brexit-Debatte. Sie kulminiert nun im fieberhaften Warten auf eine Abstimmung im britischen Unterhaus, bei der es wohl nicht mehr darauf ankommen wird, ob Theresa May für ihren „Deal“ eine demokratische Legitimation erhält, sondern wie viele Stimmen fehlen dürfen, damit May doch noch Aufschub für einen neuen Anlauf erhält. Nur: Aufschub wofür und Anlauf wohin?

    Natürlich könnten wir schadenfroh sein, dieses Eigentor haben die fußballverrückten Briten schließlich selbst geschossen. Wenn Queen Elizabeth II. einst von einem „schrecklichen Jahr“ sprach, nur weil königliche Ehen kriselten und ein Palast abbrannte, was soll man dann heute erst sagen? Die neue britische Scheidungswelle zieht sich quer durchs politische Spektrum des Landes und dessen politisches Gerüst steht in Flammen. Kühl betrachtet ist Großbritannien ein „failed state“.

    Was den Briten wiederfahren ist, kann auch uns passieren

    Nur würde Schadenfreude auf uns selber zurückfallen. Denn was den Briten widerfahren ist, kann auch uns passieren. Genauer betrachtet, passiert es uns schon: das Zerbröseln stabiler Regierungsmehrheiten und deren Legitimitätsverlust – beschleunigt durch gezielte Desinformationskampagnen.

    Wir erinnern uns: Noch bevor der Fake-News-Präsident Donald Trump ins Weiße Haus einzog, gab es Fake-News-Kampagnen in Großbritannien. Dort haben Medien seit Jahrzehnten gegen die EU gehetzt und völlig falsche Erwartungen an einen britischen Austritt geknüpft. Der spätere Brexit-Lautsprecher Boris Johnson fälschte früh als Brüssel-Korrespondent seine offen europafeindlichen Geschichten. Mit Hilfe sozialer Netzwerke wurde die (Massen-)Täuschung immer leichter – und auch die Unterwanderung der klassischen Volksparteien.

    Ähnlich chaotisch erleben wir den politischen Diskurs in den USA, ähnliche Verwirrung erlebten wir in Brasilien, wo auch Fake News gerade eine tropische Trump-Version ins Amt spülten. Wir sehen es aber auch bei italienischen Populisten oder französischen Gelbwesten. Und wir müssen begreifen: Facebook, Twitter und Co. – in Zeiten des arabischen Frühlings oder der Obama-Wahl als Instrument des demokratischen Aufbruchs gefeiert – dienen auch Feinden der Demokratie. Vielleicht gar weit effektiver.

    Brexit, Gelbwesten, GroKo: Es geht um die Grundpfeiler unserer offenen Gesellschaft

    Die Folgen sind klar: So wie die internationale Weltordnung zerfällt, so zerfällt die interne Gestaltungskraft von Regierungen. Theresa May hat schlicht keine Mehrheit mehr, obwohl sie numerisch eine Mehrheit hat – so wie sich beim TV-Dienst Netflix mittlerweile jeder Nutzer sein eigenes Programm zusammenstellt, so zerfallen Parteien zunehmend in Grüppchen.

    Emmanuel Macron muss das erleben, der eine „Bewegung“ wollte. Und die Große Koalition in Berlin hat wohl bald schon nicht mal mehr eine kleine Mehrheit.

    Wer Massen mobilisiert, tut dies jedoch meist „gegen“ etwas, selten für ein Ziel. Eine derart verengte Demokratie ist aber die schlechteste aller Regierungsformen (und der Churchill-Satz, alle anderen ausprobierten Formen seien noch schlechter gewesen, tröstet kaum).

    Deswegen dürfen wir die aktuellen Debatten um soziale Netzwerke, um Anstand und Stil im Netz, um den Schutz vor Plattformriesen oder Hackern nicht einfach als Elitendebatte abhaken. Es geht um die Grundpfeiler unserer offenen Gesellschaft – und den Umgang mit deren Feinden.

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