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Kommentar: Alles gaga mit dem Gender? Streit lenkt vom eigentlichen Problem ab

Kommentar

Alles gaga mit dem Gender? Streit lenkt vom eigentlichen Problem ab

Christian Imminger
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    Immer mehr Städte setzen auf "geschlechtersensible Sprache".
    Immer mehr Städte setzen auf "geschlechtersensible Sprache". Foto: Peter Steffen, dpa (Symbolbild)

    Liebe Leserinnen und Leser, vorweg eine offene Frage: Wäre es Ihnen in Zukunft lieber, als Lesende angesprochen zu werden? Liebe Lesende also? Es würde zumindest den Empfehlungen der Stadt Augsburg entsprechen, die diese Woche einen Leitfaden zur geschlechtersensiblen Sprache veröffentlicht hat.

    Bevor der eine oder die andere nun gleich genervt abwinkt, zur Erinnerung: Seit letztem Jahr gibt es in Deutschland amtlich mit „divers“ eine dritte Option, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lässt. Gar nicht so einfach, das mit der richtigen Anrede also. Aber umso einfacher, sich über diesen ganzen „Gender-Irrsinn“ zu erregen, worin oft gleich noch der ganze Unmut über politische Korrektheit im Allgemeinen und die Ächtung des Altherrenwitzes im Besonderen gepackt wird. Ein häufig vorgebrachter Einwand dabei: „Haben wir denn keine wichtigeren Probleme?“ Der Clou: Ja, wahrscheinlich haben wir die, nur gehen diese oft genug unter in genau dem Gezeter und Geschrei über das neueste Gender-Dings.

    Das mag von den populistischen Rechten kalkuliert sein, weil sie so einen Streit am Köcheln halten, polarisieren, sichtbar bleiben und auf komplexere Problemlagen ohnehin keine Antwort haben. Aber auch die, die sich gerne progressiv geben, lenkten mit ihrer Identitätspolitik – also der Hinwendung an die Belange einzelner Gruppen und Minderheiten – ein Stück weit davon ab, dass sie für die großen, oft transnationalen Herausforderungen mindestens keinen Hebel hatten. Um dafür dann umso leidenschaftlicher über ein Binnen-I oder Gendersternchen zu debattieren (was, sagen wir es mal so, für einige Wählerschichten nicht unbedingt anziehend gewirkt haben mag).

    Andere Sprache ändert nichts am Gender Pay Gap

    Ohne Zweifel: Sprache schafft, ja ist Bewusstsein. Aber genauso – da hat der olle Marx schon recht – bestimmt das Sein, will heißen: die materielle Basis, die Lebensumstände, eben jenes Bewusstsein. Und diese Basis zu ändern kostet und erfordert eben weit mehr als Sternchen oder geschlechtsneutrale Formulierungen auf irgendwelchen amtlichen Vordrucken. Oder ist damit der alleinerziehenden 43-jährigen Mutter oder etwa – und so was gibt es ja schließlich auch noch – dem 56-jährigen arbeitslosen Kunststoff-Formgeber, beide stets am Knapsen und in prekär-instabiler Seitenlage, irgendwie geholfen? Wohl kaum. Vom sogenannten Gender Pay Gap, also dem geschlechtsspezifischen Lohngefälle, der Teilzeitfalle, in die gerade viele Frauen mehr oder weniger alternativlos tappen, ganz zu schweigen.

    Wie solcherart Diskussionen jedenfalls tieferliegende Probleme vernebeln können, zeigt auch die unlängst wieder aufgeflammte Debatte um eine Frauen-Quote in den Parlamenten. Das Argument: Diese hätten die Bevölkerung repräsentativ abzubilden, und 50,7 Prozent der Bevölkerung seien nun einmal weiblich. Nur: Ist etwa ein Bundestag dann repräsentativ, wenn in ihm – sagen wir – 126 Juristinnen mehr sitzen, dafür aber keine einzige Friseuse? Gar nicht so einfach also auch das. Und eines steht fest: Bewusstsein wird sich nicht nur durch Empfehlungen und Vorgaben von oben ändern lassen. Zumal sich Identitätspolitik, wenn sie ernst gemeint ist, nicht hinter einem gerundiv-gerundeten Neutrum oder gar komplizierten *X?-Konstruktionen verstecken müsste.

    Deswegen: Liebe Leserinnen, Leser und Lesende also, einfach versuchen, sich nicht gleich über alles aufzuregen, sei es eine unbeholfene Formulierung (oder ein missglückter Witz), sei es eine erst mal irritierende Forderung. Man kann und sollte sich selbst bei einigem Unverständnis füreinander mit Respekt begegnen – und dafür umso mehr auch anderen Problemen zuwenden.

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