Es gibt diesen Satz, der immer fiel in Debatten zu Afghanistan. Er geht so: Der Westen, der hätte die Uhren. Aber die Taliban, die hätten die Zeit. An dem Satz war vieles richtig, dennoch ist er gerade als falsch widerlegt worden: Die Taliban hatten nicht nur immer mehr Zeit als der Westen. Sie wissen offenbar auch ganz genau auf die Uhr zu schauen.
Fast auf den Tag genau 20 Jahre nach den furchtbaren Terroranschlägen vom 11. September 2001 – die den „Krieg gegen den Terror“ auslösten – überrennen die Taliban ihr Land, das afghanische Kartenhaus bricht zusammen. Zum Jahrestag der Anschläge könnte die US-Botschaft in Kabul brennen,Taliban durch die Straßen paradieren, vielleicht Helfern der Amerikaner – und der Deutschen – die Kehle durchschneiden, Mädchen aus den Schulen zerren, sich berauschen am erbeuteten Kriegsgerät, bis hin zu hochmodernen Drohnen. Die Amerikaner hofften, die Tötung von Osama Bin Laden werde als Bild der zwei Kriegs-Jahrzehnte in Erinnerung bleiben. Weit eher aber werden die aktuellen Bilder aus Kabul unsere Erinnerung prägen.
Das Scheitern in Afghanistan ist nicht mit dem in Vietnam zu vergleichen
Vieles wird dazu nun gesagt, geschrieben, geklagt. Das allermeiste davon ist heuchlerisch. Afghanistan ist noch nicht einmal mit Vietnam zu vergleichen. Dort haben die Medien, gerade die amerikanischen, ganz genau hingeguckt, sie lieferten das Grauen ins heimische Wohnzimmer, auch deswegen scheiterten die Amerikaner. In Afghanistan hat schon lange keiner mehr hingeschaut. Deutsche Medien leisteten sich dort kaum Korrespondenten. Offenbar haben nicht mal deutsche Diplomaten mehr hingesehen, immerhin hat unser Außenminister vor kurzem im Bundestag noch eine baldige Herrschaft der Taliban so gut wie ausgeschlossen.
Was zu Vietnam ähnlich ist: Der Krieg ging in den Köpfen verloren. Die Amerikaner mussten einst erkennen, dass der Vietcong selbst in den von ihnen beherrschten Landesteilen große Unterstützung genoss. Nun wurde die afghanische Armee mit vielen Milliarden aufgepäppelt, aber bis zuletzt kämpfte sie höchstens halbherzig für die Befreiung von den Taliban, sondern vertraute massiv etwa auf US-Unterstützung aus der Luft. Das lag auch daran, dass die Afghanen eins im Zweifel immer wussten: das westliche Interesse würde erlahmen. Die Amerikaner zogen früh von Afghanistan nach Irak weiter, um angebliche Massenvernichtungswaffen aufzuspüren. Der Aufbau eines Staatswesens, das berühmte „nation building“, blieb aus ihrer Sicht eher ein deutsches Hobby. Spätestens als eine massive Truppenaufstockung ihre Wirkung verfehlte, erlahmte ihr Interesse. Zwar starben zuletzt nur noch wenige US-Soldaten dort, aber die ewigen Kriege haben Amerika zutiefst ermüdet. Donald Trump, der angebliche „Master of the Deal“, schloss mit den Taliban einen absurden Rückzugsdeal, der ihnen kaum etwas abverlangte.
Für Joe Biden macht es Sinn, sich an diesen Deal zu halten. Natürlich hätte er Kerntruppen belassen und so zumindest ein Patt aufrechterhalten können, gerade wenn sich nach dem Sommer die Taliban in die Berge zurückgezogen hätten.
Umfragen zeigen: Den USA ist Afghanistan egal geworden
Aber wozu, wird er denken? Umfragen zeigen, dass vielen Amerikanern das Land egal geworden ist. Für sie zählt nun die Heimatfront, Jobs, Infrastruktur, vielleicht klare Kante gegen China. Aber der Preis ist hoch: Biden hat gezeigt, dass auf seinen außenpolitischen „Neuanfang“ kein Verlass ist. Das haben viele geahnt, weil ja auch die Rückkehr von Trump bzw. dessen Ideen stets droht. Aber nun ist klarer: Die amerikanische Weltmacht, die wir kannten, gibt es nicht mehr. Das gilt für Afghanistan, aber sicher auch für andere Konflikte. Nur: Was kommt dann? Und wer?