Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Koalitionsverhandlungen: Union und SPD sind nah beieinander

Koalitionsverhandlungen

Union und SPD sind nah beieinander

    • |
    Der Schein trügt: Zum einen ist es keine Mehrzweckhalle, in der sich SPD und Union gestern trafen, sondern das Willy-Brandt-Haus in Berlin; zum anderen liegen die beiden politischen Lager gar nicht so weit auseinander, wie es auf unserem Bild den Eindruck macht. Manch einer ist immer noch erstaunt über so viel Harmonie, die wirklich strittigen und teuren Entscheidungen werden aber wohl erst am Ende der Koalitionsverhandlungen entschieden.
    Der Schein trügt: Zum einen ist es keine Mehrzweckhalle, in der sich SPD und Union gestern trafen, sondern das Willy-Brandt-Haus in Berlin; zum anderen liegen die beiden politischen Lager gar nicht so weit auseinander, wie es auf unserem Bild den Eindruck macht. Manch einer ist immer noch erstaunt über so viel Harmonie, die wirklich strittigen und teuren Entscheidungen werden aber wohl erst am Ende der Koalitionsverhandlungen entschieden. Foto: Wolfgang Kumm, dpa

    Ein Schlitzohr ist er ja schon. Fröstelnd wartet Horst Seehofer in der vergangenen Woche vor der bayerischen Landesvertretung, als Sigmar Gabriels Wagen vorfährt. Gleich beginnt in seiner Residenz eine weitere Runde der Koalitionsverhandlungen, und weil die Zeit knapp ist, treffen sich die Sozialdemokraten zu ihrer Vorbesprechung praktischerweise gleich hier, auf dem Terrain der CSU. Seehofer hat ihnen dazu den Raum Oberbayern reservieren lassen und dem Kollegen Gabriel einen ganz besonderen Platz zugedacht: den neben der Büste von Franz Josef Strauß.

    „Er hat halt Sinn für Humor.“ Der SPD-Chef nimmt die kleine Provokation so, wie sie gemeint ist: nicht allzu ernst. Gestern war die Union schließlich schon zum zweiten Mal zu Gast bei den Sozialdemokraten im Willy-Brandt-Haus, wo im Foyer eine überdimensionale Statue des Parteiidols steht. So viel wie einst Strauß und Brandt trennt Seehofer und Gabriel heute allerdings nicht mehr. Im Gegenteil. Große Runde im Willy-Brandt-Haus

    Atmosphäre offener und ehrlicher als 2009 mit der FDP

    In den Gesprächen, die Union und SPD über eine gemeinsame Regierung führen, geht es zumindest aus Sicht der Konservativen nur noch um das Wie und nicht mehr um das Ob. „Viele Probleme sind schon gelöst“, sagt der Europaabgeordnete Markus Ferber, der für die CSU mit am Tisch sitzt. Selbst ein Skeptiker wie Innenminister Hans-Peter Friedrich, in dessen Beritt es mit die größten Differenzen gibt, lächelt freundlich in die Kameras: „Wir kommen gut voran.“

    Gerd Müller ist Staatssekretär im Agrarministerium und handelt schon zum dritten Mal eine Koalition mit aus. „Man spürt, dass die SPD regieren will“, sagt er. Zwischen zwei Terminen sitzt der CSU-Mann aus dem Allgäu in einem italienischen Lokal im Regierungsviertel und vergleicht die Gespräche, die er diesmal führt, mit denen, die er vor vier Jahren mit den Liberalen geführt hat. Offener, findet er, gehe es nun zu, ehrlicher, humorvoller auch. Viele Beteiligte kennen sich wie Müller und Gabriel noch aus der Zeit der letzten Großen Koalition, als sie im Kabinett gelegentlich nebeneinandersaßen. Das verbindet. Außerdem schätzen Christdemokraten und Christsoziale bei allen Differenzen den Realitätssinn der SPD, die genau wisse, was sie verlangen könne und was nicht: „Diese Bodenhaftung“, sagt Müller, „hat der FDP gefehlt.“

    Bei der SPD entscheiden die Mitglieder über eine Große Koalition

    Schon wieder eine Große Koalition? Am Wahlabend, erinnert sich die SPD-Frau Ute Vogt, „habe ich spontan gedacht, das geht gar nicht“. Nun führt die Abgeordnete aus Stuttgart mit Müller die Verhandlungen über die Agrar- und die Umweltpolitik und staunt gelegentlich selbst, wie unaufgeregt Union und SPD zueinanderfinden. Auch ihr Gegenüber sei, ganz nebenbei, „ein Netter“. Ganz so euphorisch wie Müller aber klingt sie nicht: „Manchmal ist es schon sehr mühsam.“ Bei den Sozialdemokraten entscheiden die Mitglieder, ob die Partei diese Allianz schließt – und denen, ahnt

    Wie es sich anfühlt, zu regieren, weiß die 49-Jährige noch aus den rot-grünen Jahren, als sie Vorsitzende des Innenausschusses und Staatssekretärin bei Otto Schily war. Damals hatten Sozialdemokraten und Grüne ihr Bündnis zum gesellschaftsverändernden „Projekt“ aufgeladen, einer Art historischer Mission. Sieben Jahre später rief Guido Westerwelle im Siegestaumel dann gar die „geistig-politische Wende“ aus – als könne die Latte für die neue Koalition nie hoch genug liegen.

    Diesmal geht es ideologiefreier zu. „Wir versuchen nicht, aus CSU-Leuten Sozialdemokraten zu machen“, sagt Ute Vogt. „Ich kann mich an keine Sitzung erinnern, in der eine Auseinandersetzung eskaliert wäre.“ Dass diese geschäftsmäßige Routine hin und wieder durch öffentliches Säbelrasseln unterbrochen wird, gehört zur Dramaturgie solcher Verhandlungen, die ja immer auch eine große Inszenierung sind – am Ende aber siegte bisher stets die praktische Vernunft. Anders als vor vier Jahren, als Union und FDP in ihrem Vertrag vieles im Unklaren beließen, sollen nun tunlichst keine Fragen offenbleiben.

    Regierungsbildung dauert noch

    „Wann hat man das schon erlebt, dass gestandene Minister und Ministerpräsidentinnen nach Brüssel fahren, um auszuloten, was Deutschland eigentlich noch darf“, fragt sich nicht nur der CSU-Mann Ferber. Verkehrsminister Peter Ramsauer hat bei der EU sondiert, wie weit er bei der Pkw-Maut gehen kann. Umweltminister Peter Altmaier und die nordrhein-westfälische Landesfürstin Hannelore Kraft haben sich erkundigt, welche Privilegien sie der Industrie bei der Energiewende einräumen dürfen, ohne ein Verfahren wegen übertriebener Subventionswut zu riskieren. Man kann das großkoalitionäre Sorgfalt nennen oder pathologische Entscheidungsschwäche, in jedem Fall dauern die Verhandlungen auch deshalb länger als sonst. Bis die neue Regierung steht, wird es vermutlich Mitte Dezember werden.

    Mal geht es flott voran, mal verlaufen die Gespräche zäh

    Mehr als 200 Politiker aus Bund und Ländern basteln seit knapp drei Wochen in Arbeits- und Unterarbeitsgruppen, in Steuerungsgruppen und informellen Zirkeln an der neuen Koalition. Mal geht es flott voran wie beim Thema Europa, wo schon nach dem ersten Treffen mit Ausnahme der Haftungsfragen für zusammenbrechende Banken die wichtigsten Themen abgehakt sind.

    Mal verlaufen die Gespräche eher zäh wie bei den Innenpolitikern, wo die Union sich gegen die doppelte Staatsbürgerschaft wehrt und gegen das volle Adoptionsrecht für schwule und lesbische Paare. Hier wie dort verfahren die drei Parteien nach dem Prinzip der imaginären Körbe.

     In Korb eins landet alles, was unstrittig ist, in Korb zwei das, was man mit etwas Kompromissbereitschaft noch klären kann – und in Korb drei das, was Union und SPD wirklich trennt. Dieser Korb wird irgendwann, am Ende der Verhandlungen, vor Angela Merkel, Gabriel, Seehofer und ihren Generalsekretären stehen und geleert werden müssen. Die wirklich wichtigen Fragen entscheiden eben auch in der Politik die wirklich Wichtigen.

    Gabriel und Dobrindt müssen es richten

    Zwei von denen, die es dann richten müssen, durchlaufen im Moment eine besonders bemerkenswerte Metamorphose: Sigmar Gabriel und Alexander Dobrindt. Beide, der SPD-Chef und der CSU-General, galten lange als politische Radaubrüder: vorlaut im Ton, hart im Urteil und rücksichtslos im Eigenmarketing. Mittlerweile jedoch kennen auch viele ihrer Parteifreunde die beiden nicht wieder. Gabriel, der sein Temperament sonst kaum zügeln kann, klingt neuerdings so verbindlich, als habe er die Diplomatenakademie mit Bestnote abgeschlossen – und auch Dobrindt, der wohl ebenfalls Minister wird, tritt von Tag zu Tag staatstragender auf, die Arme gern reserviert vor der Brust verschränkt. Früh schon hat er sich mit der SPD-Kollegin Nahles beim Italiener verabredet und gerade noch rechtzeitig seinen Frieden mit Hannelore Kraft gemacht – vertrauensbildende Maßnahmen nennt man das wohl.

    Am meisten aber staunen sie in den C-Parteien über Sigmar Gabriel. Ein unkomplizierter, sympathischer Kerl sei das, sagt ein Unionsmann, der jetzt häufiger mit dem SPD-Chef zu tun hat. Kein „Hierarchiepolitiker“ wie Edmund Stoiber, der nur auf Augenhöhe verhandeln wollte, also mit anderen Parteivorsitzenden, sondern einer, der sich in den Pausen wie selbstverständlich unter das Fußvolk der künftigen Koalition mischt und mit ihm am Büffet mit den Bratwürstln ansteht.

    Vor allem mit Seehofer kann Gabriel gut – so gut sogar, dass es gelegentlich so aussieht, als verhandelten die beiden mehr oder weniger ohne die CDU. Teilweise spielen sie sich die Bälle wie im Streit um den Mindestlohn sogar gegenseitig zu, in dem Seehofer das Eis brach und als erster prominenter Schwarzer öffentlich die 8,50 Euro der SPD akzeptierte. Gabriel wird seinen

    Größte Aufgabe momentan: die Begehrlichkeiten bremsen

    Die Kanzlerin hat im Moment vor allem ein Ziel: Begehrlichkeiten zu bremsen. In den Berichten der zwölf Arbeitsgruppen, kaum einer weniger als zehn Seiten stark, wimmelt es nur so von Ideen. Alles in allem, schätzt ein Koalitionär, kämen so Mehrausgaben von mindestens 50, wenn nicht gar 70 Milliarden Euro im Jahr zusammen – für eine Regierungschefin, die sich in ihren Reden gerne auf die sprichwörtliche Sparsamkeit der schwäbischen Hausfrau beruft, eine ziemlich unerfreuliche Vorstellung, was sie den Unterhändlern der Union in der vergangenen Woche auch ziemlich deutlich zu verstehen gegeben hat.

    So leidenschaftslos sie bei Fragen wie der nach der doppelten Staatsbürgerschaft oder der nach einem gesetzlichen Mindestlohn ist: Beim Geld hört auch für Angela Merkel die Freundschaft auf.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden