Reinhard Kardinal Marx, der am Freitag Papst Franziskus seinen Amtsverzicht als Erzbischof von München und Freising angeboten hat, ist auch im Vatikan eine einflussreiche Figur. Seit sieben Jahren zählt Marx zum K-7 genannten Beraterkreis des Papstes, der dieser Tage in seiner 37. Versammlung die Reform der römischen Kurie wieder ein Stück weiterbringen soll. Marx ist außerdem Vorsitzender des Wirtschaftsrates im Vatikan, einer bedeutenden Koordinationsstelle für Finanzfragen. Beide Ämter wird der Kardinal beibehalten. Der angebotene Rücktritt des Erzbischofs, der vom Papst angenommen oder abgelehnt werden kann, hat auch im Vatikan für Unruhe gesorgt.
Kardinal Marx hatte nicht von eigener, direkter Verantwortung gesprochen
Schließlich hat Marx seinen Schritt nicht mit einer direkten Verantwortung im Missbrauchsskandal begründet, sondern damit, dass er dem „institutionellen Versagen“ der Kirche bei diesem Thema Rechnung tragen wolle. Doch dieser Motivation allein traut man im Vatikan offenbar nicht. So ist von Vatikan-Mitarbeitern zwar zu hören, dass die Geste „großen Respekt“ verdiene – obwohl abzuwarten sei, ob der Papst diesem Gesuch tatsächlich stattgeben werde. Eine andere Stimme, die namentlich ebenfalls nicht genannt werden will, gibt zu Bedenken, Marx sähe sich Vorwürfen aus seiner Zeit als Bischof von Trier ausgesetzt, zudem werde noch in diesem Jahr die Veröffentlichung des vom Erzbistum selbst in Auftrag gegebenen Missbrauchsgutachten erwartet, vielleicht gehe der Kardinal mit seinem Rücktritt hier bereits in die Offensive. Belege dafür gibt es nicht.
Der Vatikan ist auch eine Schlangengrube
Der Vatikan ist auch eine Schlangengrube. Es kommt vor, dass man der Redlichkeit der Motive der eigenen Leute nicht vertraut. Auch in Rom sieht man die Ankündigung von Marx als Hypothek für Kardinal Rainer Maria Woelki in Köln, der sich trotz Vorwürfen an sein Amt als Erzbischof klammert. An diesem Montag beginnt die von Franziskus veranlasste Apostolische Visitation im Erzbistum Köln. Doch auf die vielleicht wichtigste Verbindung zwischen Rücktrittsangebot und Kirchenpolitik weisen andere Beobachter hin. Es geht um einen Passus im Brief des Erzbischofs an den Papst, in dem vom „toten Punkt“ die Rede ist, der zum „Wendepunkt“ werden könne.
„Ein Wendepunkt aus dieser Krise“, schreibt Marx, „kann aus meiner Sicht nur ein ,Synodaler Weg’ sein.“ Marx wurde als Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz bis zu seinem Rücktritt 2020 in Rom als Personifikation dieses in Deutschland seit 2019 beschrittenen Synodalen Weges gesehen, in dem es um die Antworten auf den Missbrauchsskandal, die Einbindung von Laien in die kirchlichen Machtstrukturen, den Zölibat, die Sexualmoral und die Rolle der Frauen in der Kirche geht. Nicht nur der 2020 erfolgte Rücktritt als Vorsitzender der Bischofskonferenz, auch das jetzige Rücktrittsangebot als Erzbischof sei in diesem Zusammenhang zu lesen, heißt es im Vatikan. Eine Art persönliche tabula rasa, um dem strauchelnden und eigentlich von Franziskus persönlich angeschobenen Reformprojekt wieder mehr Schwung zu verleihen?
Ein springender Punkt in diesem Zusammenhang scheint das Verhältnis zwischen Papst und Kardinal zu sein. Marx sah sich nach dieser Interpretation vor allem zu Beginn des Pontifikats als Motor des Reformkurses. Franziskus erkor die Synoden genannten Bischofsversammlungen als Vehikel für schrittweise Veränderungen in der Kirche, so etwa mit der ausnahmsweisen Zulassung von Wiederverheirateten zu den Sakramenten nach den Familiensynoden 2014 und 2015. Marx, so erinnert man sich im Vatikan, habe damals behauptet, die katholische Kirche in Deutschland sei „keine Filiale“ Roms.
Die Hoffnung, Bischofskonferenzen würden wie im päpstlichen Programmschreiben Evangelii Gaudium „Lehrautorität“ bekommen, zerschlug sich allerdings. Als die Bischofskonferenz unter Marx 2019 selbst einen Synodalen Weg einschlug, um die Reformen voranzutreiben, griffen Franziskus’ Männer immer wieder ein, weil befürchtet wurde, ein deutscher Sonderweg würde die Universalkirche vor eine Zerreißprobe stellen. Der Papst bekam kalte Füße.
Will Marx mit Angebot den "Synodalen Weg" stärken?
Indem Marx nun sein Amt zur Verfügung stellt, weise er Franziskus mit Nachdruck auf den aus seiner Sicht einzigen Ausweg aus dem kirchlichen Dilemma hin: die Intensivierung des ins Stocken geratenen Synodalen Weges. Ob das einen versteckten Affront gegen Franziskus darstellt oder einen Versuch, der Wende Kraft zu verleihen, steht dahin. Ein „schwerer Schlag für das Pontifikat von Franziskus“, interpretierte die italienische Zeitung Il Foglio.
Im Vatikan blickt man bei Bischöfen auch auf ihr Alter. Marx ist 67 Jahre alt, bis zur Pensionsgrenze von 75 wären es noch acht Jahre. Wenn der Papst Marx nicht in München halten will, würde demnächst eine einflussreiche Stelle in Rom vakant, wird spekuliert. Marc Ouellet, Chef der Bischofskongregation, wird bald 77 Jahre alt und steht vor dem Ruhestand. Die Koordination und Auswahl der katholischen Bischöfe weltweit, das wäre eine Aufgabe, der Marx gewachsen wäre.
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