Fast täglich liefern die Staatsmedien in Nordkorea Bilder von Kim Jong Un. Bilder, wie der Diktator etwas inspiziert, wie er ein Gebäude einweiht, wie er wichtige Hinweise gibt. Die Aufnahme, welche die Regierung in Pjöngjang am vergangenen Dienstag verbreiten ließ, geht um die Welt. Sie zeigt den Machthaber an einem Schreibtisch, irgendwo im Nirgendwo, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, ein Fernglas vor die Augen gepresst. Er verfolgt den Start von Hwasong-14, jener Interkontinentalrakete, die sein Militär an diesem Tag erfolgreich getestet hat und die angeblich Alaska erreichen könnte. Eine gezielte Provokation – ausgerechnet zum US-Nationalfeiertag am 4. Juli. Oder, wie Nordkorea es bezeichnete, ein „Geschenkpaket“ für die USA zu ihrem Unabhängigkeitstag.
Seither ist die westliche Welt noch beunruhigter, als sie es beim Thema Nordkorea ohnehin war. Weil sich kaum abschätzen lässt, ob die Rakete tatsächlich in der Lage ist, einen Atomsprengkopf bis in die USA zu tragen. Weil keiner weiß, wie man den Diktator stoppen soll. US-Präsident Donald Trump droht Pjöngjang mit „Konsequenzen“, die amerikanischen Streitkräfte versuchen, durch eine gemeinsame Raketenübung mit Südkorea militärische Stärke zu beweisen. Die US-Botschafterin kündigt eine Resolution mit „schärferen internationalen Antworten“ an. Die EU und Japan fordern weitere Sanktionen gegen Nordkorea. Und auf dem G20-Gipfel in Hamburg, wo von heute an die Staats- und Regierungschefs beraten, ist der Diktator und seine unheimliche Rakete ebenfalls eines der wichtigen Themen.
Wie Kim Jung Un selbst das findet? Es dürfte ganz den Wünschen und Träumen des 34-Jährigen entsprechen. Trump, Xi, Putin, Abe, Merkel, Macron – für ihn gehört auch der Name Kim in diese Reihe. Vielleicht, so hofft er, kann er als Herr über eine Atommacht einmal mit am Tisch zu sitzen.
Bei Popkonzerten spielen sie zuckersüße Schlager, die Kim Jong Un liebt
In seiner Heimat ist Kim bereits so etwas wie Gott. Die Menschen geraten in Ekstase, wenn sie ihn sehen – zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen er sich dem Volk zeigt. Viele sprechen nur im Ton der höchsten Verehrung von der Familie Kim. In der Schule lernen die Kinder, dass Nordkorea das außerordentliche Glück hat, von den klügsten und besten Führern der Welt regiert zu werden. Das betet auch das Staatsfernsehen vor. Und wenn es in Nordkorea mal ein Popkonzert gibt, dann spielt die Kapelle ausschließlich Militärmusik und zuckersüße Schlager, wie der Machthaber sie bevorzugt.
Auf Massenveranstaltungen huldigen zehntausende von Statisten seiner Genialität. In Pjöngjang stehen am Großmonument Mansudae gewaltige Bronzestatuen seines Vaters und Großvaters, denen sich die Besucher nur ehrfürchtig und mit Blumen in der Hand nähern dürfen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Bildnis von Kim Jong Un dazukommt.
Er ist aus wesentlich härterem Holz geschnitzt als sein Vater, von dem er das Land geerbt hat. Kim Jong Il litt unter Ängsten, traute sich in 17 Jahren Regierungszeit nie, einen Parteitag der allein regierenden Arbeiterpartei einzuberufen, deren Vorsitzender er war. Er rief zwar ein Atomprogramm ins Leben, bremste es aber an den entscheidenden Stellen, um nicht zu viel Zorn der Nachbarn und der USA auf sich zu ziehen. Schwächen, die Kim Jon Un nach dem Tod des Vaters 2011 nicht zeigte.
Er hat jeden umbringen lassen, in dem er eine mögliche Bedrohung für seine Macht sah, sogar seinen Onkel. Er hat Partei und Militär knallhart auf seine Linie gebracht. Wer gehofft hat, dem unerfahrenen Diktator werde das Land entgleiten, sah sich getäuscht. Seine Herrschaft wirkt heute, soweit das von außen erkennbar ist, stabil. Er ähnelt in Charisma und Durchsetzungsfähigkeit mehr seinem Großvater, dem stalinistischen Staatsgründer Kim Il Sung, der dem Land den Kult um seine Personen aufgedrückt hat.
Es ist im Rückblick verblüffend, dass die Weltgemeinschaft Kim Jong Un auf dem Weg zur nuklearen Bewaffnung nicht aufgehalten hat. „Das wird nicht passieren!“, hatte Donald Trump im Januar noch großspurig getwittert. Er werde es nicht so weit kommen lassen, dass das kommunistische Land eine Interkontinentalrakete zur Einsatzreife bringen könne. Tatsächlich aber gibt es gegen Nordkorea kaum wirksame Druckmittel. Das Land mag wirtschaftlich marode sein und derart isoliert, dass es kaum Handelsbeziehungen hat – Kim ist es gleichgültig, Hauptsache, er bekommt seine Atomwaffen.
Trump dagegen hatte im Konflikt mit Nordkorea auf diplomatischen Druck aus China gesetzt. Schließlich ist das Land für 90 Prozent des nordkoreanischen Handelsvolumens verantwortlich. Doch im Reich der Mitte hält man sich nicht an die Zusage, mit den USA zusammenzuarbeiten. Peking habe den Handel mit Pjöngjang zuletzt sogar ausgedehnt, twitterte Trump am Mittwoch verärgert. In der Tat haben zu viele alte Betonkommunisten in China eine schützende Hand über den letzten echten sozialistischen Bruderstaat gehalten. Die Reformer in der Partei waren von dem Verhalten Nordkoreas zwar entsetzt, durchsetzen konnten sie sich nicht.
Nordkorea war für den Westen bisher weit weg
Der Streit um Pjöngjangs Atomprogramm gilt als einer der gefährlichsten Konflikte der Welt. Lange Zeit war das Regime aus westlicher Sicht ziemlich weit weg. Nun, da Kim im Besitz von Interkontinentalraketen ist, rückt das Problem drastisch näher. Die Rakete, die er am Dienstag getestet hat, kann vermutlich 5500 Kilometer weit fliegen. Wie es heißt, arbeiten seine Ingenieure derzeit an einer Version, die auf 8000 Kilometer kommen soll – und es damit nahezu nach Berlin schaffen würde.
Kim hat zwar keinen Grund, Deutschland anzugreifen. Der Plan könnte ein anderer sein: Seine Waffen sind eigentlich Weltraumraketen. Fallen sie von einem hohen Scheitelpunkt her wieder auf den Planeten, werden sie so schnell, dass Abwehrsysteme sie kaum erfassen können. Sie eignen sich so für einen besonders effektiven Angriff auf deutlich nähere Ziele – den Erzfeind Japan etwa. Allein im Raum Tokio wohnen 30 Millionen Menschen. Japans Regierungschef hat sich erst kürzlich vom Parlament die Befugnis geben lassen, auf konkrete Bedrohungen auch durch vorbeugende Einsätze reagieren zu können.
So seltsam es klingen mag: Kims Verhalten folgt einem Ziel. Er will einmal als erfolgreicher Diktator in seinem Palast alt werden. Durch die Entwicklung der Massenvernichtungswaffen schreckt er das Ausland davor ab, ihm die Herrschaft streitig zu machen. Er eröffnet sich damit auch die Möglichkeit, das Ausland zu erpressen und beispielsweise Geld, Öl oder Lebensmittel im Gegenzug für eine Verringerung seines Arsenals zu fordern. Im Inland befriedigt er die Forderungen des Militärs nach höheren Budgets und mächtigerem Kriegsgerät. Und er kann sich als genialer Führer feiern lassen, der sein Land stark und unabhängig macht. Dass er Unfrieden in der gesamten Region stiftet, dürfte ihn dabei wenig stören. Und kommt es zu härteren Sanktionen, leidet nicht er darunter. Es ist das einfache Volk, das im schlimmsten Fall hungert.
Dass sein Regime zusammenbricht, dieses Szenario bleibt unwahrscheinlich. Kim ist es durch vorsichtige Wirtschaftsreformen gelungen, die Produktion merklich zu steigern. Zugleich sind die Nordkoreaner ahnungslos wie eh und je. Informationsquellen wie westliches Fernsehen oder Internet gibt es nicht, stattdessen pausenlose Aufmärsche, patriotische Lieder und die immer gleiche Botschaft vom gottgleichen Kim, dem Beschützer des Landes.
Solange die Staatengemeinschaft Nordkorea nicht zwingt, sein Atomprogramm zu deckeln und kontrollieren zu lassen, wird Kims Raketenarsenal weiter anschwellen – so wie seine Leibesfülle. Sein Vater soll ihm dazu geraten haben, sich einen ordentlichen Bauch anzufressen. Das war, nachdem er Jong Un um das Jahr 2005 zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Sein ältester Bruder war da bereits aus dem Land geflohen, der mittlere Bruder war dem Vater zu „schwächlich und weibisch“, um die Macht zu übernehmen, wie japanische Quellen berichten. Das Volk erkenne schließlich nur einen großen und dicken Mann als Führer an.
Und so beutet Kim 25 Millionen Nordkoreaner aus, um sich am Ende mit Cognac, großen Villen und teuren Autos einen Lebensstil zu leisten, wie ihn im benachbarten China auch der Inhaber einer erfolgreichen Ladenkette haben könnte. Doch der genießt schließlich nicht den Nervenkitzel der absoluten Macht über Leben und Tod seiner Untertanen. Mit seinen neuen Raketen könnte Kim bald die Möglichkeit haben, den Tod auf vier verschiedene Kontinente tragen zu lassen. (mit dpa)