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Kanada: Kindergräber-Funde: Stille Zeugen einer brutalen Vergangenheit

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Kindergräber-Funde: Stille Zeugen einer brutalen Vergangenheit

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    Eine Mahnwache – an jenem Ort auf dem Gebiet der früheren „Marieval Indian Residential School“, an dem hunderte Gräber gefunden wurden. Jede Grabstelle ein Fähnchen, dazu eine Solarlampe.
    Eine Mahnwache – an jenem Ort auf dem Gebiet der früheren „Marieval Indian Residential School“, an dem hunderte Gräber gefunden wurden. Jede Grabstelle ein Fähnchen, dazu eine Solarlampe. Foto: Mark Taylor, dpa

    Vivian Ayoungman sitzt mit ihrer Schwester Angeline auf der Treppe, die in die frühere „Old Sun Indian Residential School“ führt. Neben den Frauen, die der Siksika First Nation in Kanada angehören, liegen dutzende Stofftiere. Sie wurden im Gedenken an die Kinder niedergelegt, die in diese und andere Schulen gingen – und das nicht überlebten. In den vergangenen Monaten sind wiederholt Gräber indigener Kinder gefunden worden, hunderte und nicht markiert. Die Gräber der namenlosen Kinder sind stille Zeugen einer brutalen Vergangenheit, von Rassismus und Diskriminierung. Die Funde haben weltweit Schlagzeilen gemacht, sind ein Politikum – und setzen den Papst unter Druck. Er soll jetzt um Entschuldigung bitten. Endlich.

    Vivian Ayoungman und ihre Schwester mussten in den 1950er Jahren die „Old Sun Indian Residential School“, etwa 70 Kilometer östlich von Calgary, besuchen. Sie sind alt geworden, vergessen können und wollen sie nicht. Vivian Ayoungman war sieben, als sie an die Schule kam. Sie sprach damals kein Englisch. Einmal, während der Pause, rief sie einem anderen Kind etwas zu. In ihrer Blackfoot-Sprache. „Sofort hörten wir die Trillerpfeife. Wir wussten, irgendjemand hat nun ein Problem“, erzählt sie. Es war Vivian. „Der Aufseher kam auf mich zu, packte und schüttelte mich, weil ich Blackfoot sprach.“ Sie wurde zum Direktor geführt und erhielt Schläge auf die Hand. Als sie zu den anderen zurückkehrte, standen diese in einer Reihe und durften nicht spielen. Eine Kollektivstrafe. Sie sollten lernen: „Das passiert euch, wenn ihr eure Sprache sprecht“, sagt Vivian Ayoungman.

    Das Schulsystem diente der Umerziehung indigener Völker

    Residential Schools waren in Kanada Internatsschulen, die vom Staat eingerichtet, aber überwiegend von Kirchen und Ordensgemeinschaften geführt wurden. Sie dienten nach der Staatsgründung 1867 dem Ziel, die Kinder der Ureinwohnervölker in den von europäischen Einwanderern geprägten Staat einzugliedern. Umzuerziehen. Und das bedeutete die Zerstörung indigener Identität und Kultur.

    Vor der ehemaligen Kamloops Indian Residential School wurde ein behelfsmäßiges Denkmal eingerichtet.
    Vor der ehemaligen Kamloops Indian Residential School wurde ein behelfsmäßiges Denkmal eingerichtet. Foto: Darryl Dyck, The Canadian Press, AP, dpa

    Es bedeutete viel Leid. Denn die Kinder wurden ihren Familien entrissen und in die Schulen gebracht, die oft außerhalb ihrer Reservationen lagen. Dort durften sie ihre Traditionen nicht mehr pflegen, ihre Gebete nicht mehr aufsagen. Sexueller Missbrauch gehört ebenfalls zu den schlimmen Erfahrungen, die die Kinder machen mussten.

    130 dieser Schulen gab es in Kanada. Insgesamt gingen etwa 150.000 Kinder der First Nations, wie sich die indianischen Völker Kanadas nennen, der Inuit und Métis durch diese Schulen. Sie bestanden bis in die 90er Jahre, Ende der 60er setzte ihr Niedergang ein. Damit wurden auch die Folgen dieses Schulsystems allmählich deutlich. Sozialstrukturen und Familienverbände lagen in Trümmern. Was Kinder und ihre Familien erlitten, wurde über Generationen hinweg weitergetragen. Viele der heute in indigenen Gemeinden bestehenden Probleme wie Drogen- und Alkoholabhängigkeit, Gewalt und Missbrauch werden auf das Residential School-System zurückgeführt.

    Vivian Ayoungman hat es noch erlebt und überstanden. Sie ist „survivor“, Überlebende. Im Unterschied zu tausenden anderen. Eine Wahrheits- und Versöhnungskommission veröffentlichte vor sechs Jahren einen mehrere Bände umfassenden Bericht. Das Kapitel „Verschwundene Kinder und unmarkierte Beisetzungen“ umfasst 266 Seiten. Demnach kamen in den Schulen mindestens 3200 Kinder ums Leben. Murray Sinclair, Vorsitzender der Kommission, schätzt, dass die Zahl doppelt so hoch ist.

    Auch Premierminister Justin Trudeau besuchte das Gräberfeld auf dem Gebiet der früheren „Marieval Indian Residential School“.
    Auch Premierminister Justin Trudeau besuchte das Gräberfeld auf dem Gebiet der früheren „Marieval Indian Residential School“. Foto: Liam Richards, dpa

    Die Kinder starben an Krankheiten wie Pocken, Masern, Grippe und Tuberkulose, durch Vernachlässigung, Hunger oder Unfälle. Die Kommission hörte erschütternde Berichte Überlebender. Kinder flohen aus den Schulen, manchmal mitten im Winter, und erfroren bei dem Versuch, in ihre Dörfer zurückzukehren. Und viele wurden dann eben, häufig ohne Mitteilung an ihre Familien, in unmarkierten Gräbern beigesetzt. Ihre sterblichen Überreste nach Hause zu senden, erschien als zu teuer.

    Immer wieder wurden Gräber-Funde publik: Die Wut in Kanada, vor allem auf die katholische Kirche, ist groß

    In einer Wiese stecken rote und blaue Fähnchen, dazu Solarlampen. Jedes Fähnchen, jede Lampe eine Grabstelle. Das Land hier gehört der Cowessess First Nation, zu der die Völker der Cree und Saulteaux zählen. Ihre Reservation liegt gut 150 Kilometer östlich von Regina, der Hauptstadt der Provinz Saskatchewan. Ende Juni wurde der Fund des Gräberfelds publik: mindestens 600 Gräber, vielleicht 751 oder gar mehr. Auf dem Gelände, das früher das der „Marieval Indian Residential School“ war.

    Die 80-jährige Florence Sparvier, die diese besucht hatte, sagt: „Die Nonnen waren gemein zu uns. Wir mussten lernen, römisch-katholisch zu sein. Wir durften unsere eigenen Segenssprüche nicht sagen.“ Die Nonnen hätten ihr Volk verurteilt. „Wir lernten, dass wir nicht lieben durften, wer wir waren.“

    Vier Wochen zuvor hatte die Tk´emlups te Secwepemc First Nation in Kamloops in der Provinz British Columbia die Entdeckung der Gräber von vermutlich 215 Kindern bekannt gegeben. Erst kürzlich, am Tag vor dem „Canada Day“ – dem Nationalfeiertag am 1. Juli – teilte eine Gemeinde der Ktunaxa, ebenfalls in

    Die kanadische Bevölkerung reagierte geschockt, die First Nations fühlen sich bestätigt. „In den vergangenen Jahren sagten uns die mündlichen Erzählungen unserer Elder – der älteren Mitglieder –, der Überlebenden der Residential Schools und der Freunde der Überlebenden, dass es diese Grabstätten gibt“, erklärte der Häuptling der Cowessess First Nation, Chief Cadmus Delorme. „Die Welt beobachtet uns, während wir den Genozid in Kanada zutage fördern“, sagte der Vorsitzende der Föderation der Souveränen Indigenen Nationen von Saskatchewan, Bobby Cameron. Und Kanadas Premierminister Justin Trudeau, ein Katholik, sprach von einer großen Tragödie. Die Gräberfunde „sind eine beschämende Erinnerung an den systemischen Rassismus, die Diskriminierung und Ungerechtigkeiten, die indigene Völker in diesem Land erlebten und weiterhin erleben. Wir müssen gemeinsam diese Wahrheit anerkennen, aus der Vergangenheit lernen und zusammen den Weg der Versöhnung gehen“.

    Seit Mitte der 90er versucht Kanada, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. 2008 bat die Bundesregierung formal um Entschuldigung. Auch der katholische Erzbischof der Diözese Regina, Donald Bolen, tat dies vor Jahren mit Blick auf die Rolle der Kirche im Residential- School-System. Der Erzbischof von Vancouver, Michael Miller, zog inzwischen nach. Die anglikanische Kirche bat um Entschuldigung, auch die United Church, die größte protestantische Kirche Kanadas.

    Papst Franziskus im Juni während des Angelus-Mittagsgebetes am Petersplatz.
    Papst Franziskus im Juni während des Angelus-Mittagsgebetes am Petersplatz. Foto: Andrew Medichini, dpa

    Einer jedoch fehlt in dieser Aufzählung: Papst Franziskus. Mitglieder der First Nations, Inuit und Métis und Millionen nicht-indigene Kanadierinnen und Kanadier warten auf eine offizielle Entschuldigung von ihm – im Namen der gesamten katholischen Kirche.

    Im Juni hatte Franziskus auf dem Petersplatz in Rom zwar seinen Schmerz über die Kindergräberfunde ausgedrückt und die Kirche nicht unerwähnt gelassen, Worte der Entschuldigung fand er dennoch nicht. Dabei hatte die Wahrheits- und Versöhnungskommission vor Jahren schon eine Entschuldigung des Papstes gefordert, Premierminister Justin Trudeau vor kurzem ebenfalls. Selbst Erzbischof Miller hofft auf sie. Wird sie Ende des Jahres kommen? Dann reist eine Delegation der indigenen Völker Kanadas in den Vatikan. Vertreter der First Nations, Inuit und Métis sollen zunächst getrennt mit dem Papst zusammentreffen, bevor sie am 20. Dezember eine gemeinsame Audienz bei ihm haben, heißt es.

    Mehrere Kirchen wurden niedergebrannt, religiöse Stätten beschädigt. Die Wut richtet sich auch gegen Denkmäler

    Es ist höchste Zeit dafür: Die Verärgerung, insbesondere über die katholische Kirche, ist in Kanada groß und bricht sich immer wieder Bahn. Mehrere Kirchen wurden niedergebrannt, religiöse Stätten beschädigt. Die Wut richtet sich auch gegen Denkmäler. In Winnipeg wurde eine Statue von Queen Victoria, in deren Regierungszeit Kanada gegründet und mehrere Verträge zwischen indigenen Völkern und der „Krone“ geschlossen wurden, vom Sockel gestürzt und der Kopf entfernt. Auch eine Statue von Queen Elizabeth II. wurde umgestürzt. In Kingston/Ontario entfernte man die Statue von John A. Macdonald, des ersten Premierministers. Er war ein vehementer Befürworter der Residential Schools.

    Längst hat sich die Debatte geweitet, auf systemischen Rassismus in Justiz und Polizei oder im Gesundheitswesen. Kurz vorm Nationalfeiertag, an dem Einwanderer ihren Staatsbürgerschaftseid sprechen, trat ein Gesetz in Kraft, das die Eidesformel änderte. Die neuen Staatsbürger schwören, dass sie die Gesetze Kanadas achten – „einschließlich der Verfassung, die die indigenen Rechte und Vertragsrechte der First Nations, Inuit und Métis anerkennt und bestätigt“.

    Und Überlebende wie Vivian Ayoungman? Ihre Geschichte endet nicht mit dem, was sie an der „Old Sun Indian Residential School“ erleiden musste – und den Erinnerungen daran, die sie nicht loslassen. 1971 wurde die Schule von der Siksika First Nation – früher als Blackfoot bekannt – übernommen. Sie wandelten sie in das „Old

    Eine ehemalige Schülerin sagt: „Wir machen rückgängig, was dieser Ort als Residential School zu erreichen versuchte“

    „Wir machen rückgängig, was dieser Ort als Residential School zu erreichen versuchte“, sagt sie mit ruhiger Stimme – und so, dass es möglichst viele erfahren, zum Beispiel im Gespräch mit der kanadischen Rundfunkanstalt CBC. Als sie ihren Schülern erzählte, wie sie einst von einem Aufseher geschüttelt wurde, weil sie Blackfoot sprach, applaudierten diese ihr. Sie bewundern sie. Weil sie trotz allem ihre Muttersprache bewahrte und heute weitergibt.

    Und die Politik? Regierung und Provinzen wollen hunderte Millionen Dollar geben, für die Unterstützung der indigenen Völker, für die Aufklärung der Verbrechen, für die Suche nach weiteren Gräbern. Die indigenen Völker fordern Ausgrabungen. Sie wollen Gewissheit über die Todesursachen der Kinder. Sie wollen, dass die ganze Wahrheit ans Licht kommt.

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