Ungeachtet einer Einigung in der Tempelberg-Krise ist es am Donnerstag zu heftigen Konfrontationen auf dem Gelände der heiligen Stätte gekommen. Mindestens 50 Palästinenser wurden nach Angaben des Rettungsdienstes Roter Halbmond bei Zusammenstößen mit israelischen Polizisten auf der Anlage in Jerusalems Altstadt verletzt. Tausende von Muslimen waren nach Beendigung eines Boykotts auf den Tempelberg (Al-Haram al-Scharif/Das edle Heiligtum) geströmt, der Juden wie Muslimen heilig ist. Rund 100.000 Menschen versammelten sich nach palästinensischen Angaben in der Altstadt.
Israel hatte zuvor auch die letzten Kontrollvorrichtungen an den Zugängen abgebaut. Die muslimische Führung in Jerusalem verkündete daraufhin, der Status quo an der heiligen Stätte sei wiederhergestellt. Gläubige könnten wieder in der Al-Aksa-Moschee beten. "Alle Kontrollmaßnahmen an den Zugängen sind entfernt worden, was ein Sieg für unser Volk ist", sagte Abdul Athim Salhab, Vorsitzender des islamischen Rats. Alle Metallbarrieren, Kameras und Metallträger seien abgebaut worden. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas begrüßte die Entwicklung.
Als Tausende zum Nachmittagsgebet auf das Plateau strömten, geriet die Lage jedoch außer Kontrolle. Es gab Unmut, weil eines der Zugangstore noch geschlossen war. Die Polizei öffnete es daraufhin. Dennoch eskalierte die Situation. Nach Angaben einer Polizeisprecherin bewarfen Palästinenser Sicherheitskräfte mit Steinen. Auf den Moscheen gehisste Palästinenserflaggen seien von der Polizei wieder abgenommen worden.
Der Rote Halbmond teilte mit, Menschen seien durch Gummimantelgeschosse israelischer Polizisten getroffen worden und hätten Tränengas eingeatmet. Die Polizei trieb die Palästinenser laut Medienberichten mit Schlagstöcken auseinander. Die Eingangstore zum Tempelberg seien wieder verschlossen worden.
Israel hatte nach einem tödlichen Anschlag arabischer Attentäter auf Polizisten am 14. Juli stärkere Kontrollen von muslimischen Gläubigen mit Metalldetektoren angeordnet. Die Palästinenser protestierten dagegen, weil sie dies als Versuch Israels werteten, mehr Einfluss auf den Tempelberg zu erlangen.
Es bestand die Sorge vor einer weiteren gefährlichen Eskalation der Gewalt nach den Freitagsgebeten. Abbas' Fatah-Organisation und die im Gazastreifen herrschende radikalislamische Hamas hatten für Freitag zu einem neuen "Tag des Zorns" aufgerufen. Nach der Aufforderung der Wakf-Behörde zum Massengebet wird weiterhin damit gerechnet, dass Zehntausende zum Tempelberg kommen. Dabei werden neue Konfrontationen befürchtet.
Israel ließ die Metalldetektoren am Dienstag wieder abbauen, nachdem bei Unruhen vier Palästinenser getötet und mehrere Hundert verletzt worden waren. Ein Palästinenser tötete am Freitagabend in einer israelischen Siedlung drei Mitglieder einer Familie.
Am Mittwochabend hatten nach Medienberichten rund 30.000 Muslime an Gebeten außerhalb des Tempelbergs teilgenommen. Seit Einrichtung der Kontrollmaßnahmen hatten Palästinenser die heilige Stätte boykottiert und stattdessen als Protest in der nahen Umgebung auf der Straße gebetet. Die Palästinenser lehnen für den Tempelberg jegliche Änderung des Status quo ab. Sie beharren auf freiem Zugang zu ihren Gebetsstätten dort ohne zusätzliche Kontrollen und Überwachung.
UN-Generalsekretär António Guterres drängte die politischen und religiösen Machthaber in einer in New York verbreiteten Mitteilung, provokative Handlungen und Rhetorik zu unterlassen.
Die Bundesregierung begrüßte am Donnerstag Kontakte zwischen Israel und Jordanien, die zur Entspannung der Lage am Tempelberg geführt hätten. "Wir rufen alle betroffenen Parteien auf, sich weiterhin für eine tragfähige Lösung einzusetzen, die - unter Wahrung des Status Quo - den Sicherheitsbedürfnissen aller Seiten und der Bedeutung der heiligen Stätten Rechnung trägt", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin.
Netanjahu geriet durch das Nachgeben in der Krise intern stark unter Druck. Rechte Regierungsmitglieder in Israel warfen ihm vor, er habe vor den Palästinensern kapituliert. "Die Entscheidung, die Metalldetektoren angesichts von Drohungen mit Gewalt wieder abzubauen, war ein Fehler", sagte Erziehungsminister Naftali Bennett (Siedlerpartei) dem Armeesender am Donnerstag. "Israel ist schwächer aus dieser Krise hervorgegangen."
Sogar Oren Chasan, Mitglied der Regierungspartei Likud und eigentlich Netanjahu-Getreuer, schrieb bei Twitter in Anspielung auf Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu: "Es gibt Leute, die dem Regierungschef die Zigarren und den rosa Champagner verzeihen werden. Aber die Kapitulation und den künftigen Schaden an Israels Sicherheit in der Tempelberg-Affäre, unsere Demütigung und die arabische Schadenfreude - nicht."
Sara Lemel und Maher Abukhater, dpa