Der 3. August 2021 war ein besonderer Tag für die italienische Politik: Von da an sind es noch sechs Monate, bis im Februar die Amtszeit von Staatspräsident Sergio Mattarella endet. In diesen verbleibenden sechs Monaten darf das Staatsoberhaupt laut Verfassung das Parlament nicht mehr auflösen und keine Neuwahlen ansetzen. Die Regierung von Mario Draghi sitzt damit fest im Sattel, obwohl es in den vergangenen Tagen mal wieder turbulent zugegangen war. In Rom wurde intensiv über die Justizreform verhandelt, gar der Koalitionsbruch stand im Raum. Inzwischen haben sich die Gemüter beruhigt. Die ebenso bedeutende wie umstrittene Reform steht vor dem Abschluss. Für Italien ist das ein gewaltiger Schritt.
In Italien dauern Prozesse doppelt so lange wie im EU-Durchschnitt
Mutter des Gesetzesprojekts ist Justizministerin Marta Cartabia. Die Norditalienerin aus San Giorgio Legnano bei Mailand arbeitete seit Monaten an einem der wichtigsten Gesetzesvorhaben der Regierung Draghi. Als Gegenleistung für die Corona-Hilfen, von denen Italien mit mehr als 200 Milliarden Euro den Löwenanteil in der EU in Anspruch nimmt, forderte die EU Reformen, die die Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit Italiens verbessert.
Ein zentrales Thema ist dabei die Justiz und ihre Funktionsfähigkeit. In Italien dauern Prozesse doppelt so lange wie im EU-Durchschnitt. Derzeit sind rund fünf Millionen Verfahren anhängig. Nicht nur gibt es wegen der Dauer der Prozesse keine Rechtssicherheit, zudem hält Italiens Justiz auch ausländische Investoren ab. Schätzungen zufolge könnte das Bruttoinlandsprodukt bei funktionierender Justiz um bis zu einen Prozentpunkt wachsen.
Verhandlungen um Justiz-Reform in Italien dauerten an
Hier setzt nun also die parteilose Justizministerin Cartabia mit ihrer Reform an. Die 58-Jährige war erste Präsidentin des italienischen Verfassungsgerichtshofes und zuvor Verfassungsrechtsprofessorin in Mailand. Ministerpräsident Draghi berief die anerkannte Juristin in sein Kabinett. Cartabia fand sich in folgendem Spannungsfeld wieder: Auf der einen Seite gibt es in Italien die vor allem von Ex-Regierungschef Silvio Berlusconi vertretene Tradition, die politischen und juristischen Rahmenbedingungen wie etwa Verjährungsfristen zum persönlichen Vorteil zu verändern.fünf
Auf der anderen Seite fordert etwa die systemkritische Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) absolute Rechtssicherheit und das Ende dieser Ambivalenz. Da Berlusconis Forza Italia und M5S gemeinsam Draghis Regierung stützen, kann man sich vorstellen, wie Komplex die Suche nach einer Lösung war.
Justiz-Reform in Italien: Zeitlimit für Prozesse
Herausgekommen ist ein lang ausgehandelter Kompromiss. Anstatt die Verjährung zum springenden Punkt für die Rechtssicherheit zu machen, setzte Cartabia auf ein Zeitlimit für Prozesse. Straf- und Zivilprozesse müssen künftig innerhalb bestimmter Fristen abgeschlossen sein. Berufungsverfahren dürfen maximal zwei Jahre, in besonderen Fällen auch drei Jahre dauern. In der dritten Instanz ist das Zeitlimit auf ein Jahr beziehungsweise maximal anderthalb Jahre festgelegt. Die EU hatte gefordert, die Dauer von Strafprozessen in den nächsten fünf Jahren um mindestens 25 Prozent, die von Zivilprozessen um 40 Prozent zu verringern. Werden die neuen Fristen nicht eingehalten, kommt es zu keinem Urteil und damit zu Straflosigkeit.
Die Sorge einer Massenbegnadigung trieb vor allem die Fünf-Sterne-Bewegung um. Sie erwirkte, dass Mafia-Prozesse und Terrorismus-Verfahren automatisch verlängert werden. Der rechtsnationalen Lega gelang dies bei Verfahren zu sexualisierter Gewalt und organisiertem Drogenhandel. Auch Straftaten, bei denen lebenslange Haftstrafe vorgesehen ist, sind ausgenommen.