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Istanbul: Der Terror in der Türkei und die Frage nach der Schuld

Istanbul

Der Terror in der Türkei und die Frage nach der Schuld

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    Bei einem Anschlag in Istanbul sind mindestens 39 Menschen gestorben.
    Bei einem Anschlag in Istanbul sind mindestens 39 Menschen gestorben. Foto: Yasin Akgul, afp

    Es ist kurz vor halb zwei in der Silvesternacht und im „Reina“ geht es hoch her. In dem edlen Istanbuler Klub am Bosporus-Ufer feiern mehrere hundert Menschen mit Champagner, Wein und Whisky das neue Jahr. Das „Reina“ ist so teuer, dass ein schöner Abend hier mehr kosten kann, als ein Durchschnittstürke im Monat verdient. Manche Gäste kommen nicht mit dem Wagen zum Klub, sondern mit ihrer Jacht. Türsteher und Sicherheitsleute sollen die Spielwiese der Schickeria schützen, aber innerhalb von sieben Minuten, die um 1.22 Uhr beginnen, verwandelt sich die Neujahrsparty in einen Albtraum.

    Während drinnen gefeiert wird, rennt draußen ein Angreifer mit einem Schnellfeuergewehr auf den Eingang zu. Manche sagen, er habe ein Weihnachtsmannkostüm getragen, doch Ministerpräsident Binali Yildirim wird das später dementieren. Der Unbekannte erschießt erst einen Polizisten und einen weiteren Menschen und läuft dann, wild um sich feuernd, ins Innere des Klubs. Leute schreien, stürzen blutend zu Boden. Eine Frau wird später berichten, sie habe nur überlebt, weil mehrere Leichen auf ihr lagen. Einige Gäste springen panisch ins eiskalte Wasser des Bosporus, um sich zu retten.

    Mindestens 39 Menschen tot und mehr als 60 verletzt

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    Überlebende wollen gehört haben, der Angreifer habe etwas auf Arabisch gerufen, doch sicher ist das nicht. Als das Magazin des Täters nach den sieben schrecklichen Minuten leer ist, sind mindestens 39 Menschen tot und mehr als 60 verletzt. Obwohl hunderte Polizisten am Tatort zusammen gezogen werden, kann der Attentäter entkommen. Ein Jahr, das mit dem Tod von zwölf deutschen Touristen beim Anschlag des Islamischen Staates in der Istanbuler Altstadt im Januar begann, geht mit einem neuen Blutbad zu Ende. Auch im „Reina“ weist alles auf die Täterschaft eines Extremisten hin, der westliche Neujahrsfeiern als „unislamisch“ bekämpfen wollte.

    Der Anschlagsort Club "Reina"

    Nach Anschlag in Istanbul: Das ist der Club Reina.

    Im Club Reina direkt am Ufer des Bosporus feiert die Istanbuler Oberschicht.

    Die Preise sind hoch, doch das Lokal liegt sehr schön kurz hinter der ersten Brücke, die den asiatischen mit dem europäischen Teil der Stadt verbindet.

    Reina besteht seit neun Jahren und ist einer der größten und berühmtesten Clubs der Millionenmetropole.

    Im Club legen meist Techno-DJ's auf. Dazu gehört auch ein Restaurant direkt am Wasser.

    Serienstars oder Fußballspieler der Erstligisten lassen sich öfter mal im Reina blicken.

    Mehr als 700 Menschen sollen in der Silvesternacht im Reina gewesen sein.

    Aus heiterem Himmel kommt das nicht. Seit etwa zwei Jahrzehnten ist es in der Türkei zum Trend geworden, das neue Jahr mit Weihnachtsschmuck zu feiern. Ebenso lange gibt es schon Proteste nationalistischer Randgruppen. Neu ist aber, dass diese bisherigen Randgruppen mit ihrer Propaganda inzwischen staatliche Rückendeckung bekommen. Nationalistische Gruppen agitierten im zu Ende gegangenen Jahr so aggressiv wie noch nie gegen Neujahrsfeiern. Ein in Istanbul plakatiertes Transparent zeigte einen Moslem, der einem Nikolaus einen Kinnhaken verpasst. „Wir sind Moslems – Nein zu Weihnachts- und Neujahrsfeiern“, hieß es dazu. 

    "Es wäre sinnvoll, Sicherheitsvorkehrungen zu treffen"

    Im westtürkischen Aydin hielten nationalistische Demonstranten einem als Weihnachtsmann verkleideten Mann eine Waffe an den Kopf, um vor Neujahrsfeiern zu warnen. Aber auch staatliche Stellen beteiligten sich an der Propaganda gegen Neujahrsfeiern, die in einer Direktive des Bildungsministeriums als „wertfremd“ bezeichnet wurden. An verschiedenen staatlichen Schulen gab es behördliche Anweisungen, auf allen Neujahrsschmuck und auf Neujahrsfeiern zu verzichten. An einem Gymnasium in Istanbul, das von Deutschland finanziell unterstützt wird, wurden Weihnachtsfeiern untersagt. Sogar in der zentralen Freitagspredigt, die vom staatlichen Religionsamt verfasst und am vorletzten Tag des Jahres in allen Moscheen verlesen wurde, warnte der türkische Staat offen vor Neujahrsfeiern. Es sei „bedenklich, die ersten Stunden des neuen Jahres mit Bräuchen zu verschwenden, die anderen Kulturen und anderen Welten angehören“, hieß es in der Predigt.

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    Der Journalist Ahmet Sik warnte zehn Tage vor dem Angriff auf das „Reina“ öffentlich davor, die Kampagne gegen Neujahr auf die leichte Schulter zu nehmen. „Es wäre sinnvoll, Sicherheitsvorkehrungen zu treffen“, schrieb Sik. Wenig später wurde er verhaftet.

    Vor diesem Hintergrund sei der Istanbuler Neujahrsanschlag als „Demonstration des Hasses“ zu verstehen, schreibt der Politologe Dogu Ergil auf Twitter. „Das sind die Folgen, wenn einer Gesellschaft so viel Feindseligkeit gegen andere Kulturen eingeimpft wird.“ Zwar verurteilt das Religionsamt den Anschlag auf das Schärfste. Auch die Regierung drückt ihr Entsetzen aus. Doch von Selbstkritik ist nichts zu sehen. Stattdessen verbreiten Minister und Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdogan krude Verschwörungstheorien. Vizepremier Numan Kurtulmus schiebt die seit 2015 anhaltende Terrorwelle in seinem Land auf Kräfte, die den Aufstieg der Türkei verhindern wollten. Turgay Güler, Chefredakteur der regierungsnahen Zeitung Günes, ist sicher, dass nicht islamistische Extremisten hinter dem Anschlag stecken, sondern feindliche Mächte: „Der Schuldige heißt Amerika.“

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