Mit Sitzblockaden behindern sie den Verkehr. Sicherheitskräfte beschimpfen sie als „Nazis“ und rufen ihnen Begriffe aus dunklen Zeiten zu: „Pogrom“ oder „Kristallnacht“. Sie zünden einen Bus an und verprügeln dessen Fahrer, rollen brennende Autoreifen auf die Straße, bewerfen Polizisten mit Steinen. Mit ihren wilden und gewalttätigen Protestaktionen wehren sich Israels Ultraorthodoxe gegen Einschränkungen des öffentlichen Lebens, mit denen die Regierung die Epidemie eindämmen will. Hochzeiten mit hunderten Gästen sind für sie ein unverzichtbarer Teil des gesellschaftlichen Lebens, das Beten in der Gemeinschaft ein integraler Aspekt des Gottesdienstes.
„Die Thora ist unser Sauerstoff“, sagt Rabbi Meir, an dessen Talmudschule 120 Jugendliche das wichtigste Schriftstück des Judentums studieren. Der 58-Jährige weigert sich, seine Eleven nach Hause zu schicken. Die Polizei? Sie schaut oft weg, um sich mit den Radikalen nicht anzulegen.
Die Frommen wollen sich dem Staat Israel nicht unterordnen
Rabbi Meir gehört der sogenannten „Jerusalem-Fraktion“ an, der Hardliner-Fraktion innerhalb der ultrafrommen Gemeinschaft, die die staatliche Autorität rundum ablehnt. Dass die Frömmsten der Frommen innerhalb der Gesellschaft weitgehend ein autonomes Leben führen, toleriert die israelische Regierung zwar seit Jahrzehnten. Doch jetzt, in der Corona-Krise, will sie die Gesetze und Vorschriften landesweit und ohne Ausnahmen durchsetzen. Das hat gute Gründe: Die Ultraorthodoxen machen 40 Prozent der mit Corona infizierten Israeli aus, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung lediglich zwölf Prozent beträgt.
Doch für Rabbiner Meir wäre es ein Frevel, den Unterricht zu unterbrechen und auf das Thora-Studium zu verzichten. „Von der Bibel kommt nichts Schlechtes“, sagt der Hardcore-Fromme. Die Corona-Vorschriften der Regierung zu befolgen und den Schulunterricht zu suspendieren bezeichnet er als „schädlich“, sogar als „gefährlich“: „Die Heilige Schrift schützt uns“, ist er überzeugt und mit dieser Grundhaltung nicht allein. 61 Prozent der Ultraorthodoxen verlassen sich bei der Risikobewertung auf die Rabbiner. Nur 2,6 Prozent halten für glaubwürdig, was von der Regierung und ihren Beratern kommt. Mit rabiaten Aktionen des zivilen Ungehorsams sorgen sie regelmäßig für lauten Streit.
Konflikt zwischen Säkularen und Ultraorthodoxen brodelt in Israel
„Die Corona-Krise hat den Konflikt mit den Säkularen verschärft“, sagt der ultraorthodoxe Israeli Yehuda Drori, der die Proteste mit Sorge beobachtet, weil er sich als Mediator für einen Abbau der Spannungen zwischen Frommen und Säkularen einsetzt. „Der Dialog“, sagt er illusionslos, „ist gescheitert“. Denn in der Krise prallen gesundheitspolitisch motivierte Vorschriften mit dem radikal-frommen Lebensstil aufeinander. Kompromisse finden sich kaum: „Die säkulare Weltanschauung halten wir für grundfalsch. Wir ticken ideologisch völlig anders als die Säkularen.“
Wie anders, das zeigt der 35-jährige Drori. Er lebt mit seiner Frau und fünf Kindern in einer Vierzimmerwohnung. Bei der Familie steht kein Fernseher, die Kinder müssen ohne Videokonferenzen auskommen und am Telefon lernen, wenn sie nicht zur Schule können. „Wir haben es deshalb schwerer als diejenigen, sie sich nicht an die Tradition halten“, begründet er seine Weigerung, die Kinder zu Hause zu lassen.
Seit der israelischen Staatsgründung vor 73 Jahren haben die Ultraorthodoxen ihren Freiraum stets verteidigt und ihre Rechte systematisch ausgedehnt. Sie haben durchgesetzt, dass der Staat ihre faktische Autonomie toleriert, als würden sie in einer „extraterritorialen Zone“ leben, meint Haaretz-Journalist Anshel Pfeffer. Ihre Macht sichern sie sich durch politische Beteiligung, im Parlament sind sie nicht selten das Zünglein an der Waage. Die Frage ist: Wie lange noch? In Israel wird am 23. März erneut gewählt. 61 Prozent der Wähler würden eine Koalition ohne Beteiligung der Ultraorthodoxen vorziehen, ergab am Dienstag eine repräsentative Meinungsumfrage. Lediglich einer von fünf Wählern spricht sich für eine Allianz mit den Frommen aus. Was es Benjamin Netanjahu erschweren könnte, erneut eine Allianz mit den Ultraorthodoxen einzugehen.
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