Herr Pleitgen, in Ihrem neuen Buch geht es darum, wie Politik und Bürger Berge versetzen können. Was muss alles zusammenkommen, damit das scheinbar Unmögliche gelingt?
Fritz Pleitgen: Große Veränderungen benötigen willensstarke und fantasievolle Politiker und eine Aufbruchstimmung in der Bevölkerung, wie bei den Friedensbewegungen in den 1980er und 1990er Jahren. Während heute die Menschen wegen der Maskenpflicht auf die Straße gehen, ging es damals um Fragen wie Krieg oder Frieden, Wettrüsten oder Abrüsten.
Wie haben diese Faktoren auf dem Weg zur deutschen Einheit zusammengewirkt?
Pleitgen: Die Menschen in der DDR waren mehrheitlich gegen das SED-Regime. Sie wollten sich nicht länger kujonieren lassen. Trotz der Bedrohung und der Repressalien durch den allgegenwärtigen Staatssicherheitsdienst sind sie für die Meinungsfreiheit auf die Straße gegangen. Dazu gehörte viel Mut und die Bereitschaft, die berufliche Existenz und im schlimmsten Fall das Leben aufs Spiel zu setzen. Die Stasi setzte alle Mittel der psychologischen Kriegsführung gegen die eigene Bevölkerung ein. Ich denke da an die Demonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Trotz der Warnung, dass die Staatsmacht gegen eine Demonstration Waffen einsetzen würde, haben sich die Bürgerinnen und Bürger von Leipzig nicht davon abschrecken lassen. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit haben damals dem SED-Regime das Genick gebrochen. Dies war der entscheidende Schritt zum Mauerfall und zur deutschen Einheit. Deshalb denke ich, der 9. Oktober wäre der ideale Nationalfeiertag.
Wo ist es noch gelungen, das scheinbar Unmögliche zu schaffen, Berge zu versetzen?
Pleitgen: Das war bei der Frage: Wettrüsten oder Abrüsten? Damals hatte wieder einmal ein wahnwitziger Rüstungswettlauf begonnen. Die USA wollten ihren Kontrahenten Sowjetunion durch eine Politik der militärischen Stärke in die Knie zwingen. Ein möglicher Schlagabtausch hätte sich vermutlich in Europa abgespielt. Unsere Bürgerinnen und Bürger fühlten sich bedroht. Durch gewaltige Demonstrationen haben sie die politische Stimmung gedreht. Aus dem Rüstungswettlauf wurde der größte Abrüstungsvertrag aller Zeiten. Die entscheidenden Figuren dabei waren der Russe Michail Gorbatschow und der Amerikaner Ronald Reagan. Für mich ist der US-Präsident ein herausragender Politiker, denn er brachte die Souveränität auf, sich von seiner ursprünglichen Idee der Politik der Stärke zu trennen und sich mit voller Kraft dem Gegenteil, nämlich der Abrüstung, zuzuwenden und sie auch durchzusetzen.
Seinerzeit wurde Reagan gerade in Deutschland wenig geschätzt. Was zeichnete ihn aus?
Pleitgen: Reagan entsprach tatsächlich nicht dem Bild, das die Deutschen von einem US-Präsidenten hatten. Unsere Vorstellung von einem amerikanischen Präsidenten wurde stark von John F. Kennedy geprägt. Doch Reagan hat wesentlich mehr geleistet als Kennedy. Was er zusammen mit Gorbatschow geschafft hat, erscheint heute unglaublich. Damals sind zehntausende Raketen, Wunderwerke der Technik, ebenso Panzer und Kanonen verschrottet worden. Leider hat sich die nachfolgende Politik nicht daran gehalten. Das Wettrüsten ist in Ost und West weitergegangen.
Glauben Sie, dass sich die deutsch-amerikanischen Beziehungen, die unter Ex-Präsident Donald Trump sehr gelitten haben, unter dem neuen Präsidenten Joe Biden wieder erholen?
Pleitgen: Da bin ich sehr zuversichtlich. Aber dazu müssen wir auch beitragen. Wir müssen anerkennen, dass die Amerikaner ihre eigene Sicht auf die Welt haben. Wir sollten uns nicht als die einzigen Partner der USA betrachten. Deren Blick richtet sich schon seit Henry Kissinger sehr stark auf den pazifischen Raum, wo China inzwischen eine enorme internationale Bedeutung gewonnen hat.
Sie haben in Ihrer Zeit als Korrespondent in Ostberlin Ihre Gesprächspartner, die SED-Funktionäre in ihren grauen Anzügen, immer wieder nach der deutschen Wiedervereinigung gefragt – obwohl es damals als völlig utopisch galt, dass es jemals dazu kommt…
Pleitgen: Das Thema Wiedervereinigung war in der Tat dem SED-Regime ein Gräuel. Deswegen reizte es mich als Journalisten, unsere Landsleute in der DDR zu fragen, wie sie zur deutschen Einheit stünden. Dabei stellte ich fest, dass die Menschen in der DDR mehr auf eine Wiedervereinigung setzten als wir in Westdeutschland. Für uns war das eher ein Lippenbekenntnis.
Welche Anzeichen haben Sie in Ihrer Zeit in der DDR, also von 1977 bis 1982, gesehen, dass das System bröckelt?
Pleitgen: Es war uns klar, dass das SED-Regime von der Mehrheit der Bevölkerung zwischen Elbe und Oder abgelehnt wurde. Die Menschen fühlten sich von den Willkür-Methoden des Staatssicherheitsdienstes abgestoßen. Sie waren nicht grundsätzlich gegen den Sozialismus, aber gegen die Art und Weise, wie das SED-Regime Politik praktizierte. Über das West-Fernsehen und das West-Radio konnte sich die DDR-Bevölkerung zudem informieren, wie auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs in Westdeutschland und Westberlin Freizügigkeit und Wohlstand herrschten. Solche Verhältnisse wünschte man sich im eigenen Staat auch.
Auch aus der Sowjetunion haben Sie jahrelang berichtet, mitten im Kalten Krieg, unter schweren Bedingungen. Trotzdem klingt es fast wehmütig, wenn Sie über diese Zeit schreiben…
Pleitgen: Die Arbeits- und Lebensverhältnisse waren mehr als bescheiden. Da in der Sowjetunion alles staatlich war, benötigte ich für nahezu alle Berichte eine Genehmigung durch das sowjetische Außenministerium. Um unsere Bedingungen zu verbessern, habe ich versucht, an den obersten Führer der Sowjetunion heranzukommen. Die Gelegenheit bot sich. Ich habe ein Interview mit Leonid Breschnew geführt, das inhaltlich völlig belanglos war. Aber es sind schöne Fotos gemacht worden und die gingen durch die ganze Sowjetunion. Ab da wurde ich plötzlich mit Respekt behandelt. So ist das in autokratischen Staaten. Da gibt es Reaktionen, die wir in unseren Breiten gar nicht für möglich halten.
Nach Moskau und Ostberlin wechselten Sie 1982 nach Washington und New York, also auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs. Wie haben Sie das empfunden?
Pleitgen: Das war schon ein krasser Unterschied. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich wieder an die Freizügigkeit gewöhnt hatte. Wenn ich mit dem Auto fuhr, sah ich ständig in den Rückspiegel. Doch ich wurde nicht verfolgt. Ich konnte berichten, wie ich wollte, ohne Maßregelung, ohne Repressalien. Die amerikanischen Medien gingen selbstbewusst und überaus kritisch mit ihrem Präsidenten um. Deshalb hatte ich den Verdacht, dass ein Präsident, der so scharf kritisiert wird, sich nicht lange halten kann. Ein Irrglaube. Ronald Reagan saß weiter fest im Sattel. Mit großer Mehrheit wurde er wiedergewählt. Die Bevölkerung fühlte sich hinreichend informiert, auch über Missstände. Das hat mir gezeigt, dass eine freie, unabhängige Presse ein Garant für die Stabilität einer Demokratie ist.
Heute werden Demokratien von autoritären Staaten bedroht, die nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich stark sind. Sie nutzen digitale Technologie, um die Menschen zu kontrollieren. Ist da Wandel realistisch?
Pleitgen: Ich bin mir sicher, Autokratien halten sich nicht auf ewig. Die Menschen lassen sich auf Dauer nicht gefallen, bevormundet zu werden. So stark sie wirtschaftlich und technisch sein mögen, wissen autokratische Regime selbst um ihre Anfälligkeit. Sonst würden sie nicht so empfindlich gegenüber andersdenkenden Strömungen reagieren, wie China auf die Demokratiebewegung in Hongkong oder Russland auf einen Politiker wie Alexej Nawalny. Die Unterdrückungsmethoden betrachte ich als Ausdruck von Unsicherheit.
Gerade flammt im Nahen Osten ein Konflikt wieder auf, der als ähnlich unüberwindbar gilt wie einst die deutsche Teilung. Wie könnte eine Lösung aussehen?
Pleitgen: Es ist nicht hinnehmbar, wenn dieser Konflikt sich dauerhaft hinzieht. Es muss intensiv und mit Ausdauer darauf hingearbeitet werden, dass solche Konflikte, wie auch die Kriege in Syrien und Jemen, endlich beendet werden. Irgendwann kommen Menschen an die Macht, die in der Lage sind, scheinbar Unmögliches möglich zu machen. Dafür gibt es in der Geschichte und auch in der Zeitgeschichte gute Beispiele. Mir fallen dazu Anwar Al-Sadat in Ägypten und der Israeli Menachem Begin ein. „Nichts bleibt auf Dauer“ wissen wir von Willy Brandt. In meinem Buch habe ich mich insbesondere auf Bertolt Brecht und sein Moldaulied bezogen. „Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine“. Auch dafür gibt es viele Beispiele.
Welcher der drei Bewerber für das Bundeskanzleramt hat für Sie am ehesten das Zeug, Berge zu versetzen?
Pleitgen: Ich will denen zunächst mal nichts Unmögliches abverlangen. Sie müssen nicht gleich Berge versetzen. Vernünftig regieren reicht ja schon. Ich traue allen dreien zu, dass sie das Amt ordentlich ausfüllen. Wir sollten Menschen nicht unterschätzen. Auch Angela Merkel war anfangs nicht die Angela Merkel von heute. Zwischenzeitlich galt sie als mächtigste Frau der Welt. Als Hüterin der Demokratie gegen Donald Trump.
Wie hat sich die politische Berichterstattung seit Ihrer aktiven Zeit verändert?
Pleitgen: Der Journalismus erfüllt heute weiter seine Rolle als Hüter der Demokratie. Durch meine eigenen Erfahrungen mit Zensur in totalitären Staaten weiß ich den Wert einer freien Presse zu schätzen. Dieses Privileg sollten wir wahrnehmen und verteidigen. Das tun die Verlage und Rundfunkanstalten. Die Ausbildung zum Journalisten ist heute besser als früher. Das ist auch notwendig angesichts der Herausforderung durch soziale Medien im Internet. Diese Angebote sind zwar schnell, nehmen es mit der Wahrheit aber oft nicht so genau.
Was empfinden Sie, wenn heute bei Demonstrationen Lügenpresse-Sprechchöre laut werden, Journalisten sogar tätlich angegriffen werden?
Pleitgen: Das findet meinen ganzen Abscheu. Ich habe Krieg, Bombenterror und Flucht erlebt, habe klare Vorstellungen davon, was nicht demokratische Systeme wie Diktaturen und Autokratien anrichten können. Die Parolen von der Lügenpresse, das ist Nazi-Gedankengut. Mir ist diese ganze Querdenkerei suspekt, wenn sich Menschen auch noch mit Sophie Scholl vergleichen, wenn sie völlig ungefährdet die Politik unserer Regierungen kritisieren. Für welche Werte gehen sie auf die Straße? Früher ging es um Krieg und Frieden, heute geht es um Maskenpflicht. Wir sollten froh sein, dass wir eine freie Presse haben.
Zur Person: Der gebürtige Duisburger Fritz Pleitgen, 83, lernte das journalistische Handwerk bei der Freien Presse Bielefeld und wechselte 1963 zum Westdeutschen Rundfunk (WDR). Als Korrespondent berichtete er unter anderem aus Moskau, Ostberlin und Washington. 1995 bis 2007 war er Intendant des WDR und 2001/2002 Vorsitzender der ARD. 2020 wurde bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert. In seinem Buch „Eine unmögliche Geschichte“ berichtet er über Ereignisse, bei denen „Politik und Bürger Berge versetzten“.
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