Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Interview: Winfried Kretschmann: "Das Liebesleben von Politikern ist irrelevant"

Interview

Winfried Kretschmann: "Das Liebesleben von Politikern ist irrelevant"

    • |
    Winfried Kretschmann ist sich nicht sicher, ob er ohne die Reaktorkatastrophe Ministerpräsident geworden wäre.
    Winfried Kretschmann ist sich nicht sicher, ob er ohne die Reaktorkatastrophe Ministerpräsident geworden wäre. Foto: Bernd Weißbrod, dpa

    Herr Kretschmann, bei Wahlen entscheiden oft wenige Stimmen über Schicksale von Politikern. Wie kommen Sie mit der Ungewissheit klar?

    Winfried Kretschmann: Ich kann in solchen Momenten warten. Bei einer Wahl ist um sechs Uhr alles entschieden. Mir ist vollkommen schleierhaft, warum mit so einem riesigen Aufwand gleich nach Schließung der Wahllokale eine Prognose erstellt wird. Wir leben in einer Gesellschaft, die nicht mehr warten kann. Die Medien und die Logikmuster der Echtzeit-Kommunikation verstärken das noch. Das macht alles kurzatmiger. Nur führt das dazu, dass die Umfragen selbst ein Moment von Politik werden. Sie wirken sich auf den weiteren Gang der Dinge aus. Dann wird die

    Ohne Fukushima wäre Kretschmann vielleicht nicht Ministerpräsident geworden

    Hat es das nicht immer gegeben?

    Kretschmann: Schon. Denken Sie nur an meine erste Wahl: Ohne die Reaktorkatastrophe von Fukushima wäre ich vielleicht nicht Ministerpräsident geworden. Aber es nimmt zu und untergräbt damit Politik als rationales Gestalten und bewusstes Entscheiden über Programme von Parteien.

    Daneben hat ja die Bedeutung der Personen für Wahlentscheidungen zugenommen. Geht das noch weiter?

    Kretschmann: Früher gab es große, klare politische Lager. Diese Bindung an feste Milieus hat aber abgenommen. Jetzt schauen die Leute auf Personen. Das haben sie zwar früher schon gemacht – etwa bei der Wahl von Willy Brandt 1969. Aber es nimmt zu. Heute können Einzelpersonen gegen Trends von Parteien große Erfolge erzielen. Zum Beispiel die Kollegin Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz.

    Das ist ja eigentlich in Baden-Württemberg bei Ihnen ähnlich…

    Kretschmann: Ja. Ich glaube, das nimmt zu. Die Landespolitik wird dadurch präsidialer. Das soll nicht heißen, dass ich einen präsidialen Regierungsstil habe. Das wird mir zwar öfter unterstellt, ist aber meiner Ansicht nach eine Fehlbeobachtung. Die Länder funktionieren mehr wie ein Präsidialsystem, obwohl die Ministerpräsidenten gar nicht vom Volk gewählt werden. Ich beobachte das mit wachsender Sorge, dass sich die politische Kultur von der Verfassung entfernt.

    Auf der anderen Seite setzen die Parteien den handelnden Personen Grenzen. Wie haben Sie das jetzt bei den Koalitionsverhandlungen erlebt?

    Kretschmann: Eigentlich gibt die Verfassung nur vor, dass die Parteien an der politischen Willensbildung mitwirken. Tatsächlich bestimmen sie heute sehr dominant den Koalitionsvertrag. Der Einfluss der gewählten Abgeordneten hat abgenommen. Was gemacht wird, legen die Parteien in viel höherem Maße fest.

    "Die Boulevardisierung hat mit den sozialen Medien einen Schub bekommen"

    Wie nehmen sie in diesem Spiel die Rolle der Medien wahr?

    Kretschmann: Der politische Kampf sollte um die Sache gehen. Heute steht die Person mehr im Blickfeld, und zwar nicht nur die politische, sondern auch die private. Was unter Homestory läuft, ist ein ganz schwieriges Gelände. Wenn ich meine Privatsphäre vollkommen abschotte, locke ich manche Medien erst recht in diesen Bereich. Jeder muss überlegen, wie weit er sich da reingucken lässt. Die Boulevardisierung hat mit den neuen sozialen Medien noch mal einen Schub bekommen. Das sehe ich sehr kritisch. Meine Mentorin Hannah Arendt hat einmal gesagt, dass Argumente zur Person jede politische Debatte zerstören. Die hat da sehr radikal geurteilt.

    Das ist aber weit weg von der heutigen Wirklichkeit…

    Kretschmann: Absolut. Dahinter steckt die Ansicht, dass in der Politik der Erfolg zählt. Charakterfehler sagen da noch lange nichts. Natürlich wollen wir keine Leute an der Spitze des Staates, die schwere Verfehlungen begehen. Aber die Moralisierung von Politik führt zur Entpolitisierung. Eine moralisch integre Person muss noch lange keine gute Politik machen. Dafür gibt es in Europa Beispiele. Auch das Liebesleben von Politikern ist völlig irrelevant. Dass der frühere französische Präsident Francois Hollande nachts mit dem Roller zu seiner Geliebten fuhr, ist völlig unerheblich für seine Außenpolitik. Es muss immer um die Argumente zur Sache gehen. Zumal das andere den Leuten irgendwann egal ist.

    Als Sie in die Politik gingen, wurden politische Debatten viel schärfer geführt als heute. Da wurden Standpunkte klarer. Wäre Ihnen das lieber?

    Kretschmann: Die übertriebene politische Korrektheit sehe ich skeptisch. Das produziert Empfindlichkeiten ohne Ende. Es muss auch so was wie eine zivile Robustheit geben – ohne verletzend zu sein. Gleichzeitig gibt es jedoch auch eine Verrohung der Sprache. Da beschweren sich Leute andauernd, dass man nicht mehr alles sagen dürfe und sagen gleichzeitig Dinge, die ein anständiger Mensch einfach gar nie sagt. Es braucht einen Mittelweg in der Kommunikation, die oberhalb der Gürtellinie bleibt, ohne in einer Plastiksprache zu enden.

    Winfried Kretschmann mit seiner Frau Gerlinde in Stuttgart.
    Winfried Kretschmann mit seiner Frau Gerlinde in Stuttgart. Foto: Marijan Murat, dpa

    Müssen Politiker heute eher Moderatoren sein?

    Kretschmann: Die Mitte wird generell schmäler. Die Gesellschaft wird pluraler und individualistischer, aber sie franst eben auch aus. Die Frage, wie hält man eine Gesellschaft zusammen, wird neben den großen Sachfragen immer wichtiger. Das merkt man an den Debatten über Sprache. Wer hätte denn zu Zeiten des SPD-Altvorderen Herbert Wehner seine Art der Sprache thematisiert? Das war was für Spezialisten. Die Entwicklung hat aber auch was Positives. Viele Leute reden qualifiziert mit. Das war in den 50er Jahren noch anders. Da haben die Bürger den politischen Institutionen vertraut und sich mehr um ihre privaten Dinge gekümmert. Wenn nur noch Misstrauen gegen die Institutionen da ist, wie wir es in manchen Bereichen erleben, dann wird man die Politik überfordern und sich selber auch.

    Vorwürfe von rechts? "So entfernt man sich von Fakten"

    War die große Skepsis gegen die staatlichen Institutionen nicht auch ein Erfolgsfaktor für die Grünen in den letzten 40 Jahren?

    Kretschmann: Skepsis ist nicht schlecht. Sie darf aber nicht umschlagen in eine generelle Ablehnung des Staates. Es gab zu unserer Anfangszeit Gründe für ein gestörtes Grundvertrauen. Ich habe in meinem Wahlkreis noch Anhörungen erlebt, die eine Farce waren. Die Leute sind mit formaljuristischen Erklärungen schikaniert worden, bis sie frustriert gegangen sind. Es gab keine materielle Auseinandersetzung mit ihren Bedenken. Eine Berechtigung für ein gestörtes Grundvertrauen, wie es von rechts reklamiert wird, sehe ich heute jedoch nicht. Der Vorwurf Lügenpresse wird nicht belegt. So entfernt man sich von Fakten. Wir haben in der Anti-Atom-Debatte die Fakten in die Politik geschmissen.

    Als Sie 1980 erstmals in den Landtag kamen, hatte die CDU 53 Prozent, die Grünen 5,3. Welche Wegmarken haben dazu geführt, dass 40 Jahre später die Grünen bei 32 Prozent liegen und die

    Kretschmann: Die CDU hat in Baden-Württemberg sehr lange regiert, 60 Jahre. Das führt zum Verschleiß. Der Kern war, dass die CDU nicht mehr so gut im Volk verankert war. Das hat man in den 1980er Jahren schon gespürt. Gegen die Atomkraftpläne in Wyhl haben nicht nur linke Studenten aus Freiburg demonstriert. Da waren auch konservative Winzer vom Kaiserstuhl dabei. Mich wundert heute noch, dass der CDU das entgangen ist. Angela Merkel hat das gespürt und hat in vielen Bereichen nachgesteuert.

    Welche Rolle spielte bei Ihrem Wahlsieg 2011 die Katastrophe von Fukushima?

    Kretschmann: Das hat die Wählerwanderung beschleunigt. Natürlich war der Unfall ein zufälliges Ereignis, aber wir waren dessen Propheten. Wir hatten ja auch schon vor Fukushima 24 Prozent in den Umfragen. Da fand ich die Reaktion der Kanzlerin bemerkenswert. Die Katastrophe von Tschernobyl hat sie den Schwächen des Kommunismus zugeordnet. Der sei unfähig und könne eine so komplexe Technologie nicht beherrschen. Erst als es sich in einem modernen Industriestaat gezeigt hatte, dass wir recht haben, ist sie umgeschwenkt. Da spürt man die Naturwissenschaftlerin in ihr. Auch daran zeigt sich, dass Angela Merkel die Antenne hatte. Die hat die CDU vorübergehend verloren, vor allem in Baden-Württemberg.

    Zu welchem Zeitpunkt haben Sie 2011 gedacht, dass Grüne und SPD zusammen die Wahl gewinnen können?

    Kretschmann: Ich habe damals gesagt, wir bleiben auf dem Teppich, auch wenn der fliegt. An den Sieg habe ich bis zum Wahlabend nicht geglaubt.

    Mit Ralph Brinkhaus ein Verbündeter auf Bundesebene

    Da haben die Grünen vom Zufall der Weltgeschichte profitiert. Gibt es auch einen Punkt, an dem Sie ohne eigenes Zutun verloren haben?

    Kretschmann: Ich kann mich an so etwas nicht erinnern. 2016 hatten wir gezeigt, dass wir das Land erfolgreich regiert haben. Als Ministerpräsident wird man gleich anders wahrgenommen. Vorher galt man als netter Mensch. Die fünf Jahre haben was verändert. Die baden-württembergischen Grünen haben anders als andere Landesverbände von Anfang an Realpolitik gemacht. Man kann sagen, wir haben sie erfunden. Ich glaube auch, dass ich das Land Baden-Württemberg gut geführt habe.

    Sie haben ja schon als Oppositionspolitiker an Föderalismusreformen mitgearbeitet. Sehen Sie eine Chance für einen neuen Anlauf?

    Kretschmann: Das wäre dringend notwendig. Ich habe mit dem Unionsfraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus einen Verbündeten auf Bundesebene. Der will das auch. Das erhöht die Chancen enorm.

    Die Politikwissenschaft spricht vom „goldenen Zügel“ der Bundesprogramme. Können die Länder nicht Nein sagen?

    Kretschmann: Der Bund legt immer Programme mit einem hohen Anteil einmaliger Investitionsmittel auf. Die sind attraktiv, aber zeitlich begrenzt. Um die Betriebskosten kümmert er sich gar nicht oder nur wenig. Das hat inzwischen etwas Fatales. Die Forderung der Verfassung, dass Bund und Länder ihre Finanzbedürfnisse fair aushandeln, wird missachtet.

    Die Entscheidung, nochmal anzutreten, ist ihm schwergefallen

    Die letzten Landtagswahlen haben immer die Amtsinhaber gewonnen. War es nicht ein Fehler, dass Frau Merkel bis zur Bundestagswahl regiert und sich kein Nachfolger profilieren konnte?

    Kretschmann: Ich glaube, es war nicht schlau von der CDU, nach der Flüchtlingskrise Angela Merkel so in Frage zu stellen. Was spräche dagegen, dass sie noch mal antritt? Gar nichts. Die Frau ist im Vollbesitz nicht nur ihrer Kräfte, sondern des politischen Gestaltungswillens. Sie ist in der Pandemie noch mal zu Hochform aufgelaufen. Aber der 2016 vereinbarte Verzicht war praktisch nicht mehr rückholbar.

    Und wenn Sie das auf Ihren Fall anwenden?

    Kretschmann: Ich trete nicht noch mal an. Die Entscheidung ist mir schon dieses Mal außerordentlich schwergefallen. Ich habe das gut abgewogen. Das Beispiel von Annegret Kramp-Karrenbauer hat mir noch mal gezeigt, dass es auch nicht Aufgabe des Amtsinhabers ist, einen Nachfolger zu bestimmen. Eine Demokratie ist keine Monarchie.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden