In Europa und in den USA werden die Corona-Restriktionen zurückgefahren, das Leben kehrt zurück, die Menschen planen Reisen. Das sind schöne Aussichten für den transatlantischen Sommer, oder?
Célia Belin: Na ja. Ich habe das Gefühl, dass in der Freude über die Öffnung unserer Länder eine Gruppe vergessen wird. Es gibt nämlich eine weitreichende Bestimmung, die bislang nicht aufgehoben wurde – das Reiseverbot zwischen Europa und den USA. Zwar wollen die Europäer vollständig geimpfte Besucher aus Amerika im Laufe des Monats Juni wieder hereinlassen. Aber die US-Regierung zeigt bislang keine Neigung, die Grenzen für geimpfte Europäer wieder zu öffnen.
Warum ist es so schlimm, noch eine Weile auf die Reise zum Grand Canyon zu warten?
Belin: Zum einen ist das nun schon der zweite Sommer mit diesen Restriktionen, und ich glaube, dass weder Amerikaner noch Europäer es sich leisten können, für so lange dichtzumachen. Vor allem aber wird in der Debatte Reisen oft mit Tourismus gleichgesetzt. Es gibt viele Menschen, die für ihren Job, für das Studium oder aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände reisen müssen. Das sind Zehntausende. Um die hat sich keiner gekümmert.
Welche Personengruppen leiden unter dem US-Einreiseverbot?
Belin: Monatelang gab es sehr strikte Restriktionen auf beiden Seiten des Atlantiks, die praktisch nur Diplomaten oder Bürgern mit doppelter Staatsangehörigkeit das Reisen erlaubten. In der Zwischenzeit haben die USA Sonderregelungen für Studenten, Journalisten oder unverzichtbare Fachkräfte geschaffen, die aber eine Ausnahmegenehmigung brauchen, deren Bedingungen von der Biden-Regierung zuletzt sogar noch verschärft wurden. Vor allem gibt es sehr viele Europäer, die legal seit Jahren mit einem Langzeitvisum in den USA leben, hier Kinder haben und Miete und Steuern zahlen, aber von der Regelung überhaupt nicht erfasst werden. Die befinden sich seit 15 Monaten in einer Lage wie im Fegefeuer: Sie können die USA nicht verlassen, weil sie nicht wieder hereingelassen werden.
Wie ist Ihre persönliche Situation als französische Wissenschaftlerin, die in Washington arbeitet?
Belin: Wenn ich nach Frankreich reisen würde, müsste ich dort eine Ausnahmegenehmigung beantragen, um hierher zurückzukommen, wo mein Job ist und meine Kinder zur Schule gehen. Rechtlich ist meine Lage nicht eindeutig. Jedenfalls bestünde ein hohes Risiko, dass ich das Papier nicht bekäme und für Wochen oder Monate in Europa festhängen würde, wie es einigen meiner Freunde passiert ist.
Wann waren Sie zuletzt in Ihrer Heimat?
Belin: Ich war zufälligerweise im März 2020 noch einmal drüben. Seither hänge ich mit meiner Familie hier fest. Wir können nicht zu unseren Verwandten in Frankreich, und niemand kann uns besuchen. Meine beiden Kinder haben ihre Großeltern seit 15 Monaten nicht gesehen, und niemand weiß, ob das noch Wochen oder Monate so bleibt.
Sie haben über das Thema jetzt einen Aufsatz für die Denkfabrik Brookings, bei der Sie arbeiten, geschrieben. Wie waren die Reaktionen?
Belin: Enorm. Dutzende Leute haben mir geschrieben und sich bedankt. Sie haben das Gefühl, dass ihre Lage völlig ignoriert wurde. Die persönlichen Geschichten sind berührend. Ich habe von einem Briten erfahren, der nicht zu den Beerdigungen seiner Mutter und seiner Schwiegermutter konnte, die in kurzem Abstand verstorben waren. Es gibt Frischverheiratete, bei denen ein Partner kein Visum bekommt, weil die US-Konsulate deren Ausstellung eingestellt haben. Dann gibt es Leute, die seit langem in den USA leben, nach Europa gereist sind und da jetzt seit Monaten festhängen.
Weshalb hat es nicht längst einen viel lauteren Protest gegeben?
Belin: Jede Situation ist anders, das Visarecht ist ziemlich kompliziert. Das erschwert gemeinsame Aktionen. Auch gab es in den dramatischen Zeiten der Corona-Krise sicher so ein Gefühl, dass dies nicht das dringendste Problem ist und man eben Geduld haben muss. Aber das dauert inzwischen zu lange. Diese Situation ist gnadenlos für viele Betroffene.
Was hören Sie von den amerikanischen Behörden?
Belin: Die sind extrem vorsichtig und weisen darauf hin, dass sie den Empfehlungen der Gesundheitsexperten folgen, die entscheiden, wann es sicher ist, das Land wieder zu öffnen. Aber das ist widersprüchlich, denn das Einreiseverbot gilt nur für direkte Einreisen aus Europa. Viele Leute, die sich das leisten können, umgehen das, indem sie über ein Drittland wie Kolumbien, Mexiko oder die Türkei reisen und dort zwei Wochen bleiben. Dann können sie ohne Auflagen mit ihrem Visum in die USA einreisen. Das scheint mir unter dem epidemiologischen Aspekt viel gefährlicher zu sein als ein Direktflug. Außerdem dürfen Diplomaten, Studenten und unter bestimmten Voraussetzungen Journalisten reisen, während andere festsitzen, obwohl sie seit langem legal im Land sind und Non-Immigrant-Visa besitzen. Das macht gesundheitspolitisch keinen Sinn.
Haben Sie den Eindruck, dass sich die Europäische Union genug für ihre Bürger einsetzt?
Belin: Ich hätte mir schon gewünscht, dass die EU stärker auf Reziprozität gedrängt hätte, bevor sie den Amerikanern eine Öffnung zusagt. Wir haben ja eine zunehmend asymmetrische Situation: Europa lässt alle geimpften Amerikaner herein. Die USA sperren ihre Grenzen nicht nur für europäische Touristen, sondern selbst für die Inhaber von Langzeitvisa weiter zu, die zum Wohlstand des Landes beitragen. Das ist diskriminierend.
Hoffen Sie, dass das Thema beim Europa-Besuch von Joe Biden nächste Woche zur Sprache kommt?
Belin: Joe Biden hat bei dieser Reise eine ganze Menge auf dem Zettel. Aber ich denke, wenn wir über eine Stärkung der transatlantischen Partnerschaft reden, muss dieses Problem angesprochen werden. Die Europäer sollten darauf drängen, dass es wenigstens schrittweise Erleichterungen gibt.
Wie könnten die aussehen?
Belin: Zumindest muss es Visa-Inhabern wieder möglich sein, mit Impfung und Test hin- und herzureisen. Und der amerikanische Visa-Service in Europa muss wieder zur normalen Arbeit zurückkehren. Derzeit dauert es 400 Tage, bis man einen Termin beim Konsulat bekommt. Das ist aberwitzig. Und wenn die USA ihr Land nicht gleich ganz für Europäer öffnen wollen, muss es zumindest eine absehbare Entwicklung dahin geben. Wenn Joe Biden das anbieten würde, wäre das ein wichtiges Zeichen des guten Willens für die europäischen Partner.
Zur Person: Célia Belin hat das Reisen schon immer fasziniert. Als Zwölfjährige flog die Französin zum ersten Mal zu ihrer Patentante in die USA. Seit vier Jahren arbeitet die Politologin an der renommierten Denkfabrik Brookings in Washington.
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