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Interview: Wettbewerbskommissarin Vestager: "Brauchen neue Regeln für Großkonzerne"

Interview

Wettbewerbskommissarin Vestager: "Brauchen neue Regeln für Großkonzerne"

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    Margrethe Vestager machte sich in Brüssel schnell einen Namen als als „Eiserne Lady“, weil sie große Wettbewerbsverfahren gegen Google, Apple oder Mastercard leitete.
    Margrethe Vestager machte sich in Brüssel schnell einen Namen als als „Eiserne Lady“, weil sie große Wettbewerbsverfahren gegen Google, Apple oder Mastercard leitete. Foto: Stefan Boness, Imago Images

    Frau Vestager, die liberale Parteienfamilie hat Sie sozusagen zur Frontfrau ihres Führungsteams gemacht. Was ist Ihr Ziel?

    Margrethe Vestager: Ich will erreichen, dass Europa funktioniert. Wir brauchen nach der Wahl eine Koalition im Parlament mit starken Partnern. Und eine Volksvertretung, die zusammen mit der neuen Kommission genügend Führungskraft entfalten kann, weil die nächsten fünf Jahre wichtig, wenn nicht gar entscheidend werden.

    Warum? Welche Themen stehen für Sie im Mittelpunkt?

    Vestager: Für mich stehen der Klimaschutz und die industrielle Revolution durch die Digitalisierung ganz oben auf der Tagesordnung. Natürlich geht es in den kommenden Wochen auch um die Frage, wer welche Führungspositionen in der EU einnimmt. Aber noch wichtiger ist doch die Antwort auf die Frage, wohin wir als Gesellschaft gehen.

    Warum wären Sie eine gute Kommissionspräsidentin?

    Vestager: Es geht nicht um eine One-Man- oder One-Woman-Show. Die Volksvertreter und die Kommission müssen fünf Jahre gut zusammenarbeiten, weil es darum geht, unsere fundamentalen Werte sicherzustellen. Und einige davon sind durchaus gefährdet – ich verweise auf das Thema Rechtsstaatlichkeit, um nur ein Beispiel zu nennen.

    Sie könnten die erste Frau an der Spitze der Europäischen Kommission werden. Welche Akzente werden Sie in den ersten hundert Tagen setzen?

    Vestager: Es geht nicht nur um die Tatsache, dass ich als Frau dieses Amt übernehmen könnte, sondern um die Ausgewogenheit von Männern und Frauen im gesamten Kommissionsteam. Nicht eine oder zwei Frauen machen den Unterschied, sondern die Zusammensetzung der gesamten Mannschaft.

    In der Flüchtlings- und Asylpolitik tritt die EU auf der Stelle. Wie wollen Sie zu Fortschritten kommen?

    Vestager: Wir brauchen beides: eine Lösung für die Aufnahme von Menschen, die den Asylschutz brauchen. Aber wir brauchen auch Maßnahmen, um die illegale Zuwanderung zu stoppen. Das kann nur funktionieren, wenn die Mitgliedstaaten untereinander solidarisch sind.

    Wie wollen Sie denn die Regierungen von Italien, Ungarn oder Polen zur Solidarität bewegen?

    Vestager: Die Regierungen müssen verstehen, dass die europäischen Bürger eine Lösung wollen. Natürlich kann man niemanden zwingen, einer Lösung zuzustimmen, die das Volk nicht will. Aber ich denke schon, dass man den Wählern klarmachen kann, dass Solidarität notwendig, ja unverzichtbar ist und dass es deshalb auch die Bereitschaft braucht, eine solche Herausforderung gemeinsam anzugehen und dass jedes Land seinen Teil der Verantwortung übernimmt.

    Sie waren bisher für den Wettbewerb der EU verantwortlich – und haben sich Vorwürfe eingehandelt, weil Ihre Entscheidungen Fusionen wie bei Siemens und Alstom unmöglich gemacht haben. Wie sehen Sie die Zukunft der europäischen Industrie auf dem Weltmarkt? Brauchen wir keine europäischen Champions?

    Vestager: Es gibt eine große Zahl europäischer Champions, aber unsere Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass die gesamte Wirtschaft funktioniert und widerstandsfähig ist. Zu den Stärken der Wirtschaft gehört, dass wir einen sehr kraftvollen Mittelstand haben. Hinzu kommt ein falsches Bild: Da wird beispielsweise von der deutschen Autoindustrie gesprochen, tatsächlich handelt es sich aber längst um eine europäische Branche. Das bringt eine hohe Flexibilität, weil man viele Subunternehmer und Zulieferer hat. Diese Struktur schafft und sichert Arbeitsplätze. Wir haben noch nie so viele Europäer mit einem Job gehabt wie derzeit.

    Trotzdem hat man Ihnen vorgeworfen, mit den bisherigen europäischen Wettbewerbsregeln nicht auf die wachsende chinesische Konkurrenz auf dem Weltmarkt eingehen zu können. Müssen diese Regeln nicht geändert werden?

    Vestager: Wir brauchen neue Regeln, darüber reden wir schon länger, gerade weil sich die Bedingungen durch neue Herausforderungen wie die Digitalisierung ändern. Denn neue Wirtschafts- und Geschäftsformen erfordern auch geänderte Regeln. Aber wir können und wollen nicht unsere Rahmenbedingungen für eine faire Konkurrenz aufgeben. Der Vorwurf, dass wir Wettbewerbsentscheidungen nur mit Blick auf den europäischen Markt getroffen haben, ist falsch. Wir hatten immer auch die Situationen auf dem Weltmarkt im Auge. Und das müssen wir sicherlich künftig noch mehr tun.

    Bei der Europawahl wird ein deutlicher Rechtsruck befürchtet. Wie gehen Sie damit um?

    Vestager: Das ist ein beunruhigender Trend. Ich sehe aber auch, dass es wachsenden Widerstand gegen rechte und nationalistische Tendenzen gibt. Man muss die Wähler deutlich fragen, ob das wirklich die Volksvertreter sind, von denen sie in den nächsten fünf Jahren auf europäischer Ebene regiert werden wollen. Die Ursachen für das Aufkommen von rechten, nationalistischen und populistischen Strömungen mögen national sehr unterschiedlich sein. Aber gemeinsam müssen sich Politiker und Bürger solchen Stimmen entgegenstellen, indem sie sich beispielsweise klar zu den europäischen Grundprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Gleichheit von Männern und Frauen bekennen.

    Werden Sie eine Digitalsteuer durchsetzen?

    Vestager: Die Kommission hat festgestellt, dass es eklatante Unterschiede zwischen digitalen Unternehmen, die rund neun Prozent Steuern zahlen, und traditionellen Betrieben, die bis zu 23 Prozent tragen müssen, gibt. Das hat mit fairem Wettbewerb nichts zu tun. Ich hoffe, dass wir eine europäische Lösung finden. Sollte das nicht möglich sein, bin ich absolut einverstanden damit, wenn Mitgliedstaaten eine solche Abgabe selbst einführen. Aber ich kann nur davor warnen, das Problem zu übergehen. Die Staaten brauchen eine faire Besteuerung der digitalen Wirtschaft, sonst sägen sie den Ast ab, auf dem sie sitzen. Denn wir werden erleben, dass zum Beispiel in immer mehr Wirtschaftsbereichen Daten generiert werden, die neues Vermögen darstellen. Das ist gut so, aber dafür braucht man ein funktionierendes Abgabensystem. 

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