Herr Weil, gerade ist die bundesweite Corona-Notbremse in Kraft getreten. Greift sie zu stark in die Befugnisse der Bundesländer ein?
Stephan Weil: Für Niedersachsen wäre dieses Gesetz nicht notwendig gewesen, wir hätten es nicht gebraucht. Wir haben uns immer strikt an die Beschlüsse der Bund-Länder-Beratungen gehalten und deswegen halten sich die Änderungen bei uns auch in Grenzen. Die Bundes-Notbremse sorgt jetzt allerdings dafür, dass die Schutzmaßnahmen in allen Ländern gelten und das ist vernünftig. Aber ein großer Wurf ist dieses Gesetz ganz bestimmt nicht und der wichtigste Punkt ist mit einem dicken Fragezeichen versehen.
In welchem?
Weil: Die nächtlichen Ausgangssperren sind ein massiver Eingriff in die Grundrechte. In unserem Land haben wir sie deswegen immer an die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall geknüpft. Die Bundesregierung hat sich jetzt bei einer Inzidenz über 100 für einen Automatismus entschieden. Das ist dann sogar ein Abwägungsverbot und bei einer so harten Grundrechtseinschränkung nicht unproblematisch. Es wäre gut, wenn das Bundesverfassungsgericht diese Frage möglichst bald klärt.
Wie würden Sie bei den Ausgangssperren vorgehen?
Weil: Es ist richtig, wenn der Gesetzgeber klar zum Ausdruck bringt, wann diese Maßnahme erfolgen soll. Aber es gibt eben auch immer wieder Ausnahmen von der Regel. Um ein praktisches Beispiel zu geben: In einem großen Landkreis kann ein einziger Hotspot durchaus die Inzidenz über 100 treiben. Das hat dann aber mit der Situation in großen Teilen desselben Landkreises nichts zu tun.
Sind die Ausgangsbeschränkungen denn überhaupt sinnvoll?
Weil: Die Infektionslage ist derzeit deutlich gefährlicher als vor einem Jahr. Gleichzeitig sind viele Maßnahmen, die damals ergriffen wurden, jetzt schon monatelang in Kraft. Außerdem gibt es nicht wenige Berichte über positive Erfahrungen mit Ausgangsbeschränkungen, international und auch aus Deutschland. Deswegen sind solche Maßnahmen aus meiner Sicht durchaus geboten.
Die Notbremse kam, weil die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz von den Ländern völlig unterschiedlich umgesetzt wurden...
Weil: Das hätte sicher besser laufen müssen. Vor allem unionsregierte Länder haben die gemeinsamen Beschlüsse offenbar eher als unverbindliche Beschreibungen angesehen. Das hat dann auch in anderen Ländern viel Ärger ausgelöst, ich kann davon ein Lied singen.
Genau durch diesen Maßnahmen-Flickenteppich ist der deutsche Föderalismus massiv in die Kritik geraten. Zu Recht?
Weil: Nein, insgesamt sicher nicht. Es reicht doch der Hinweis auf den internationalen Vergleich. Deutschland schneidet trotz aller Probleme insgesamt gut ab bei der Bekämpfung der Pandemie. Die Infektionsdichte und zum Glück auch die Zahl der Todesopfer sind um einiges niedriger als in anderen Ländern. Das hat nach meiner Überzeugung auch damit zu tun, dass Deutschland dezentral aufgestellt ist. Die Situation ist nun einmal auch sehr unterschiedlich, das merken wir jetzt auch wieder in der dritten Welle. Die nördlichen Bundesländer etwa stehen aktuell schon besser da als die südlichen. Nicht nur die Zwischenbilanz in der Pandemiebewältigung, die gute Entwicklung der Bundesrepublik in den vergangenen 70 Jahren insgesamt zeigt, dass wir an unserem Föderalismus festhalten sollten.
Sollte die Impf-Priorisierung möglichst schnell aufgegeben werden, wie es Ärztevertreter und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder fordern?
Weil: Wie vieles andere auch hängt die Aufhebung der Impf-Priorisierung ab von der Menge an Impfstoff, die zur Verfügung stehen wird. Natürlich hoffen wir sehr, dass wir jetzt im Mai noch einmal deutlich mehr Impfstoff erhalten. Wenn das der Fall sein sollte, dann müssen wir vielleicht nicht bis Juni warten mit der vollständigen Freigabe und könnten schon im Mai damit beginnen, alle, die dazu bereit sind, zu impfen. Wir haben aber leider alle miteinander die Erfahrung gemacht, dass die Impfstoffplanungen der Hersteller nicht immer verlässlich sind. Wenn wir also auf Nummer sicher gehen und keine Enttäuschungen auslösen wollen, dann erscheint es mir klug, eine Aufgabe der Priorisierungen eher für Juni anzukündigen.
Die Corona-Notbremse bedeutet nun aber auch das Aus für viele der Modellprojekte, mit denen Städte und Regionen eigene Wege im Umgang mit Corona ausprobieren wollten...
Weil: Das bedaure ich sehr, das ist ein großer Wermutstropfen. Die Modellversuche sollen auf konsequenten Tests beruhen. Wer viel testet, findet auch viel. Was geschieht, wenn die offiziellen Infektionszahlen deswegen steigen? Dass der Bund sich geweigert hat, in das Infektionsschutzgesetz für diesen Fall eine Öffnungsklausel aufzunehmen, war ein Fehler. So sinkt die Motivation, neue Wege auszuprobieren. Da hat die Bundesregierung eine Chance vertan.
Teil dieser Bundesregierung ist ihre Partei, die SPD. Und die rutscht immer noch stärker in den Umfragen nach unten, zuletzt sogar bis auf 13 Prozent. Woran liegt es?
Weil: Die aktuellen Umfragewerte sind natürlich frustrierend. Aber es ist mit Blick auf die Bundestagswahlen noch vieles im Fluss. Die entscheidende Frage wird sein, wer soll Angela Merkel nachfolgen. Das ist ein ungeheuer wichtiges und anspruchsvolles Amt. Da haben wir es mit Olaf Scholz zu tun, der dafür ganz sicher die notwendige Kragenweite hat. Und mit einer Kandidatin, die - mit allem Respekt - in vielerlei Hinsicht ein unbeschriebenes Blatt ist. Und mit einem Kandidaten, der in der eigenen Partei hoch umstritten ist.
Damit meinen Sie sicher Armin Laschet, der für die Union antritt. Aber auf den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz trifft das ja auch zu. Die Partei wollte ihn erst nicht als Vorsitzenden, nun ist er Kanzlerkandidat. Wie passt das zusammen?
Weil: Diese Einschätzung ist nun doch ein bisschen retro. Wir haben diese Phase längst überwunden, die SPD ist mit ihrem Kandidaten sehr im Reinen. Da gibt es keine Spannungen mehr, auch keine latenten. Olaf Scholz ist sicher der beste Kandidat. Je weiter die Kanzlerinnendämmerung voranschreitet, desto mehr wird der Vergleich der Kandidaten eine Rolle spielen. Und bei diesem Vergleich punktet die SPD.
Offenbar ist vielen Bürgern aber nicht klar, für was die SPD eigentlich heute steht, wenn der Spitzenkandidat stark zur politischen Mitte neigt und die beiden Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans einen strammen Linkskurs vertreten...
Weil: Olaf Scholz und die Parteispitze haben ein gutes Miteinander gefunden und das Wahlprogramm der SPD trägt auch sehr klar die Handschrift von Olaf Scholz. Sein Pragmatismus und die Orientierung an wirtschaftlichen Notwendigkeiten gehören auch zu der Linie der SPD.
Ganz so geschlossen wie die Grünen wirkt die SPD nicht, gerade sorgt das Thema Identitätspolitik für mächtig Streit. Partei-Urgestein Wolfgang Thierse etwa geriet kürzlich mit der Parteispitze aneinander, weil er sich sorgte, dass eine zu aggressive Debatte über ethnische, geschlechtliche oder sexuelle Identität zur Spaltung der Gesellschaft beiträgt. Ist seine Sorge berechtigt?
Weil: Unsere Gesellschaft ist ausgesprochen vielfältig. Es muss unser Anspruch sein, dass ganz unterschiedliche Lebensformen und Kulturen in unserer Gesellschaft akzeptiert werden. Aber die SPD hat sich vor allem auch immer als die Partei des gesellschaftlichen Zusammenhalts gesehen und daran müssen wir unbedingt festhalten. Ich habe zum Thema Identitätspolitik ehrlich gesagt nur einen sehr begrenzten Zugang. Eine Mehrheit ist nicht typischerweise die Summe der Minderheiten. Es geht um den gemeinsamen Kern der Gesellschaft, um den muss sich die SPD kümmern.
Wie würden Sie denn diese Zielgruppe der SPD umschreiben?
Weil: Frei nach Ex-US-Präsident Bill Clinton: Menschen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten. Das können ganz unterschiedliche Gruppen sein: Menschen, die in der 95. Generation in Deutschland leben genauso wie solche, die erst seit kurzem im Land sind. Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, Kulturen, Religionen und Einkommensverhältnissen. Kurzum alle, die einen Beitrag für unsere Gesellschaft leisten, und sich zu unserer Demokratie bekennen.
Unklar ist vielen Wählern ja auch, für welche Art von Regierung die SPD antritt. Eine Koalition mit der Union will ja offenbar niemand mehr. Es könnte für Dreierbündnisse, wohl unter grüner Führung reichen. Doch es macht ja einen gewaltigen Unterschied, wer da noch dabei ist...
Weil: Erst einmal müssen sich die Umfragen verändern, danach können wir uns gerne über Machtoptionen unterhalten. Ansonsten bleibt diese Diskussion Spökenkiekerei, wie man im Norden sagt. Es gibt allerdings in der SPD die weit verbreitete Auffassung, dass die Zeit der Koalitionen mit der Union zu Ende geht. Mit den Grünen und der FDP könnten sich dagegen viele eine Zusammenarbeit vorstellen.
Wie sieht es mit der Linkspartei aus?
Weil: Dazu müsste man wissen, woran man bei der Linken ist. Da gibt es Leute wie Bodo Ramelow oder Dietmar Bartsch, mit denen eine Zusammenarbeit jederzeit gut möglich wäre. Aber es gibt auch andere, mit denen das nicht klappen kann. Die Linke trägt sehr viele ungeklärte Fragen mit sich rum. Die müsste sie erst einmal klären.
Sie regieren ja in Niedersachsen auch zusammen mit der CDU. Ist schwarz-rot wirklich keine Option mehr?
Weil: Bei uns ist es rot-schwarz, das ist schon ein gewaltiger Unterschied. Aber im Bund dominiert nun schon zu lange die schwarz-rote Konstellation, da ist in der SPD die Meinung sehr klar, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Mein Eindruck ist, dass das auch viele in der Union so sehen.
Wie erklären Sie sich eigentlich den anhaltenden Höhenflug der Grünen und was hat die SPD dem entgegenzusetzen?
Weil: Die Grünen profitieren im Moment auch davon, im Bund nicht zu regieren. Bei unangenehmen Themen können sie sich so aus der Verantwortung ziehen. Ein aktuelles Beispiel ist die Enthaltung zu den Ausgangsbeschränkungen. Das geht in Regierungsverantwortung nun einmal nicht. Mit dem Klimawandel gibt es obendrein ein Thema, das geradezu genetisch mit den Grünen verbunden zu sein scheint. Aber es reicht nicht, nur immer höhere Ziele zu verlangen, man muss auch wissen wie es geht, gerade beim Umbau der Wirtschaft. Das muss das Thema der SPD sein. Wir wollen Arbeit und Umwelt.
Das Land Niedersachsen ist Miteigentümer von Volkswagen, einem der größten Autobauer der Welt, an dem Hunderttausende Arbeitsplätze hängen. Fürchten Sie durch den Umstieg auf Elektromobilität einen massiven Jobverlust?
Weil: Das Thema Transformation hat für Niedersachsen in vielen Bereichen eine enorme Bedeutung. Der Umbau der Automobilindustrie ist ein besonders wichtiges Beispiel. Klar, der Elektromotor braucht weniger Arbeit als ein Verbrennungsmotor. Um so mehr müssen wir uns um neue Wertschöpfung kümmern, zum Beispiel bei der Produktion von Batteriezellen oder IT-Arbeitsplätzen.
Wie kann die Politik dazu beitragen?
Weil: Es ist richtig, dass die EU anspruchsvolle Ziele beim Klimaschutz stellt. Aber sie müssen verlässlich und realisierbar sein. Dann können auf dieser Grundlage auch hohe Investitionen erfolgen. Volkswagen investiert derzeit mehr als vierzig Milliarden Euro vor allem auch in die Elektromobilität und die digitale Vernetzung des Autos. Solche Investitionen können wieder zu neuen Produkten und auch zu neuen Arbeitsplätzen führen. Das muss das Ziel sein.
Welche Rolle kann die SPD in diesem Wandel spielen?
Weil: Die SPD war immer die Partei der Arbeit und das muss sie auch bleiben. Aber die Arbeit muss gesellschaftlich vertretbar sein, zum Beispiel im Hinblick auf den Klimaschutz. Es ist geradezu eine historische Aufgabe der Sozialdemokratie, dafür zu sorgen, dass unsere Industrie diesen Übergang schafft. Daran hängt am Ende der Wohlstand unseres Landes und auch unser Sozialstaat. Weder die Altmaiersche Schneckenpolitik noch die Wunschträume der Grünen werden uns dabei helfen. Sehr wohl aber eine aktive Industriepolitik nach den Vorstellungen der SPD.
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