Lange Zeit schien es ruhig zu sein, jetzt erleben wir kurz hintereinander Anschläge in Frankreich und Österreich. Sind Sie überrascht, dass der Terror zurück ist in Europa?
Peter Neumann: Ja und nein. Natürlich hat die Zerschlagung des sogenannten Islamischen Staats 2017/18 dazu geführt, dass diese einst so mächtige Bewegung nicht nur ihre Infrastruktur und Organisation, sondern auch ihren Mythos verloren hat. Also die Idee des Kalifats. Das hat in der dschihadistischen Szene ein paar Jahre lang zu einer Art Sinnkrise geführt: Viele Anhänger haben sich gefragt, was das alles noch soll, und man hat begonnen, sich untereinander zu bekämpfen. Jetzt hat die Szene aber ein Thema wiederentdeckt, das eine Grundspannung erzeugt und bei dem sich alle einig sind: die Mohammed-Karikaturen...
...wie sie ein Lehrer in Frankreich im Unterricht gezeigt hatte und daraufhin bei Paris enthauptet wurde?
Peter Neumann: Es hat aber nicht mit dem Lehrer angefangen, sondern mit dem Beginn des "Charlie-Hebdo"-Prozesses (seit September stehen die mutmaßlichen Helfer der Attentäter vor Gericht, die 2015 einen Anschlag auf das Satiremagazin verübt hatten, Anm. d. Red.). Deswegen hat der Lehrer das in der Schule überhaupt thematisiert. In der Islamisten-Szene ist das schon vorher hochgekocht. Mohammed-Karikaturen sind ein Evergreen unter Dschihadisten. Denken Sie nur an die weltweiten Eskalationen nach dem Karikaturen-Streit – ausgelöst von Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung 2005.
Wie bewerten Sie die aktuelle Terrorgefahr vor diesen Hintergründen in Europa?
Peter Neumann: Die Jahre 2017 und 2018 brachten eine Niederlage für den "Islamischen Staat", aber dessen Ideen sind nicht weggegangen. Sie brauchten nur wieder einen Auflader, eine Art Dynamo, wie ich eben beschrieben habe. Und jetzt haben wir eine Situation, die gefährlicher ist als vor einem Jahr, aber nicht genauso gefährlich wie vor fünf Jahren. Damals hatten wir noch eine echte Bedrohung durch eine Organisation, die große Operationen planen konnte, mit Strategien und mit Leuten, die in Syrien trainiert wurden. Das gibt es heute nicht. Aber es ist trotzdem gefährlich, weil einige Anhänger ihre Motivation wiedergefunden haben und – metaphorisch gesprochen – aus ihren Verstecken herauskommen und wieder bereit sind, sich zu engagieren.
Die Anschläge in Nizza und in Wien ereigneten sich jeweils einen Tag, bevor Frankreich beziehungsweise Österreich in den Corona-Lockdown ging. Gibt es hier einen Zusammenhang?
Peter Neumann: Ich glaube schon. Wahrscheinlich haben die Täter gerade dann zugeschlagen, weil sie sich gedacht haben, wenn der Lockdown erst mal da ist, sind die Menschen nicht mehr auf der Straße. Aber ich glaube nicht, dass ein Lockdown Ursache der Anschläge war. Die Lockdowns waren aber vielleicht Auslöser und haben dazu geführt, dass die Anschläge einige Tage früher stattgefunden haben.
Muss man Corona bei der Bewertung einer Terrorgefahr mitdenken? Sind etwa Behörden mit der Pandemie gerade so ausgelastet, dass sie den Terrorismus aus dem Fadenkreuz verlieren?
Peter Neumann: Ich bin kein großer Anhänger solcher Theorien. Ich sehe hier aktuell auch keinen Zusammenhang. Und man könnte die Argumentation ja auch herumdrehen: Wir sehen, dass gerade während der Lockdowns die Kriminalität deutlich zurückgegangen ist. Man könnte also sagen, dass mehr Polizei zur Verfügung steht, weil weniger Einbrüche oder andere Delikte aufgeklärt werden müssen.
Sie haben als OSZE-Sonderbeauftragter für Kanzler Sebastian Kurz gearbeitet, als er Außenminister war. Wie nehmen Sie ihn und die Stimmung in Österreich gerade wahr?
Peter Neumann: Ich denke, Sebastian Kurz hat sehr gut reagiert. Er hat in seiner Fernsehansprache der populistischen Versuchung widerstanden: Er hat nicht alle Muslime dafür verantwortlich gemacht, was passiert ist, und sie so nicht zum Sündenbock gemacht. Das wäre genau das gewesen, was Terroristen wollen: die Spaltung der Gesellschaft befeuern. Und wir sehen ja auch schon in der Reaktion rechtspopulistischer Parteien wie AfD oder FPÖ, dass sie den Anschlag zugunsten ihrer politischen Ziele, aber zulasten der Gesellschaft ausschlachten wollen. Kurz hat dagegen auf die Einheit der österreichischen Gesellschaft gesetzt. Natürlich hat er Forderungen an Muslime formuliert, aber er hat deutlich gemacht, dass Muslime, die die Gesetze befolgen und sich in die Gesellschaft integrieren, genauso Österreicher sind wie alle anderen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Terroristen provozieren wollen, und das hat er verstanden.
Sind Dschihadismus und Populismus voneinander abhängig?
Peter Neumann: Ja. Populismus und dschihadistischer Extremismus sind unterschiedliche Phänomene, aber sie sind sich sehr ähnlich, argumentieren auf gleiche Weise und brauchen sich gegenseitig: Der Dschihadist sagt: ,Schau dir die von der FPÖ an, das ist das wahre Österreich, die sprechen so, wie die Leute wirklich denken, die tun gar nicht erst so, als wollten sie uns integrieren.' Und die FPÖ sagt umgekehrt: 'Der IS ist der wahre Islam.' Beide machen das, um mehr Anhänger und Unterstützung für ihre Seite zu gewinnen.
In Corona-Zeiten ist der gesellschaftliche Zusammenhalt ohnehin auf die Probe gestellt. Wie schwer wiegt da jetzt zusätzlich ein Terroranschlag?
Peter Neumann: Ich habe keinen Präzedenzfall dafür. Aber natürlich trägt das noch mal zu Spannungen bei. Es zeigt sich, dass diese extremistische Bedrohung viel komplexer geworden ist, als sie es vor fünf oder sechs Jahren war. Wir haben etwa in Deutschland einen wiedererstarkten Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus – ein Phänomen, das auch durch islamistische Anschläge verstärkt wird. Wir haben einen nach wie vor nicht völlig besiegten Islamismus und Dschihadismus, der momentan eine Art Renaissance hat. Und dann haben wir mit den Corona-Leugnern eine Bewegung, die zunehmend militant ist, und wo man sich gut vorstellen kann, dass aus der Vernetzung dieser Verschwörungstheoretiker nicht nur eine extremistische, sondern auch eine terroristische Bedrohung resultieren kann. Das heißt, die staatlichen Sicherheitsbehörden sind jetzt in einer Situation, wo sie nicht nur an einer, sondern an sehr vielen Fronten kämpfen müssen. Den Luxus, sich nur auf dieses oder jenes Problem zu konzentrieren, gibt es nicht mehr.
Zur Person: Peter Neumann, 45, stammt aus Würzburg, lehrt als Politikwissenschaftler am Londoner King’s College und berät Regierungen und Organisationen wie den UN-Sicherheitsrat. Sein Schwerpunkt ist der Islamismus und der Radikalisierung von Terroristen.
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