Frau von der Leyen, die Impfungen sind schleppend angelaufen. Können Sie verstehen, dass die Menschen verärgert sind?
Ursula von der Leyen: Ja, ich kann die Frustration der Menschen und auch derjenigen, die in den Impfzentren arbeiten, gut nachvollziehen. Es sind zwei Dinge zusammengekommen. Wir haben schneller wirksame Impfstoffe gefunden, als es zu erwarten war. Normal dauert das fünf bis zehn Jahre. Das ist eine großartige Leistung der Wissenschaft. Aber wir wussten nicht, dass das Hochfahren der Massenproduktion und das Überwinden von Anfangsproblemen so schwierig sein würde. Ich verstehe die Ungeduld sehr gut, dass die Bürger jetzt, wo der Impfstoff da ist, auch so schnell wie möglich geimpft und endlich geschützt sein wollen.
Die CSU hat am Montag eine „Liste des Versagens“ in Umlauf gebracht, in der gleich reihenweise die Versäumnisse der EU-Kommission angeprangert werden. Ärgert Sie das?
von der Leyen: Kritik gehört dazu. Aber ich mag mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn heute nur zwei oder drei Länder Zugang zu Impfstoffen hätten und der Rest der Europäischen Union leer ausgegangen wäre. Das hätte unsere Gemeinschaft zerrissen. Hinzu kommt: Eine solche Entwicklung wäre Gift für den Binnenmarkt gewesen. Denn unsere Wirtschaft – auch die deutsche – ist miteinander verflochten und nur deshalb so stark, weil wir enge Beziehungen zu unseren Nachbarn haben. Insofern bleibt der europäische Weg trotz aller Hindernisse die richtige Entscheidung.
"Hüterin der europäischen Verträge": Das sind die Aufgaben der EU-Kommission
Die EU-Kommission Die EU-Kommission ist eine Art Kabinett mit jeweils einem Vertreter aus jedem Mitgliedstaat, derzeit also 27.
Sie schlägt Gesetze vor und überwacht deren Einhaltung in den Mitgliedstaaten.
Der Kommissionschef repräsentiert zusammen mit anderen Spitzen die EU. Für die Kommission gibt er die politische Linie vor.
Die Kommissare sind wie ein Kabinett mit verschiedenen Themengebieten.
Die Kommission legt Entwürfe für Richtlinien und Verordnungen vor, die dann vom EU-Parlament und vom Rat der Mitgliedsländer beraten werden.
Sie überwacht zudem die Einhaltung von EU-Recht – sie ist sozusagen die Hüterin der europäischen Verträge.
Der Sitz der Europäischen Kommission ist in Brüssel.
Die Kommissionspräsidentin verdient rund 25 500 Euro monatlich plus Zulagen.
Die gemeinsame Einkaufsstrategie war richtig?
von der Leyen: Ja, dank des europäischen Ansatzes haben wir heute ein breites Angebot an Impfstoffen, die wir auch gegen die Mutationen nutzen können. Wir haben auf sechs Hersteller gesetzt, drei davon sind inzwischen zugelassen und weltweit nachgefragt, zwei befinden sich kurz vor der Zulassung. Unsere Strategie ist aufgegangen. Wir haben auf die richtigen Pferde gesetzt. Bisher wurden 41 Millionen Dosen ausgeliefert und es kommen absehbar deutlich größere Mengen.
Die Kommission hat als Vorgabe für die Mitgliedstaaten ausgegeben, dass bis zum Sommer 70 Prozent der erwachsenen EU-Bürger geimpft sein sollen. Dieses Ziel geben Sie noch nicht verloren?
von der Leyen: Ich bin da zuversichtlich. Aber eine Bilanz können wir erst am Ende des Sommers ziehen. Das ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. Wir müssen zusammenhalten, denn nur dann haben wir genügend Stärke, um uns auch den Unwägbarkeiten wie den neuen Varianten zu stellen.
Die EU war zu langsam. Was können Sie denn jetzt tun, um die Herstellung, die Zulassung und dann die Bereitstellung der Vakzine zu beschleunigen?
von der Leyen: In 130 Ländern der Welt wurde noch niemand geimpft. Europa gehört zu den ersten, wenn auch mit weniger Dosen in der Startphase als erwartet. Wir sind mit den Herstellern der Impfstoffe ständig im Gespräch und gehen die Punkte durch: Was wird gebraucht, um die Produktion auszubauen? Wo gibt es Ansatzpunkte, um die weltweiten Zulieferketten zu stärken und knappe Rohstoffe in ausreichender Menge zu besorgen? Wie können Daten aus der Unternehmensforschung direkt an die Europäische Arzneimittel-Agentur fließen, damit die Zulassung schneller kommen kann ohne Abstriche bei der Sicherheit? Dieses Vorgehen ist nicht nur jetzt nötig, um mehr Vakzine verimpfen zu können. Wir wollen dadurch auch sicherstellen, dass wir schneller reagieren können, wenn neue Varianten auftauchen und wir angepasste Impfstoffe brauchen.
Die Angst vor den Mutanten ist groß?
von der Leyen: Die neuen Varianten sind sehr ernst zu nehmen. Gut ist, dass die zugelassenen Impfstoffe größtenteils wirken. Aber wir alle sind immer noch dabei, das Virus besser kennenzulernen. Nur wenn in allen Staaten die Sequenzierung, also eine Analyse der positiven Proben stattfindet, können wir schnell feststellen, wann und wo sich neue Varianten bilden. Zugleich laufen bereits die Vorbereitungen mit den Pharma-Firmen, damit wir bereits beim Auftreten einer gefährlicheren Variante die Impfstoffe anpassen. Dazu investieren wir massiv in die Forschung und einen schnelleren Datenfluss. Und zum Dritten arbeiten wir an einem Netz an Produktionsstätten, die in der Lage wären, einen verbesserten Impfstoff rasch zu produzieren. Das zeigt, wie wichtig es ist, alle Kräfte zu bündeln. Dies schafft kein Land allein.
Wir haben zwar drei zugelassene Impfstoffe, aber einer davon aus dem Hause AstraZeneca bleibt nicht nur in Deutschland liegen. Wurde das Vakzin im Streit mit dem Hersteller regelrecht kaputtgeredet?
von der Leyen: Ich würde mich mit dem Vakzin von AstraZeneca genauso bedenkenlos impfen lassen wie mit den Produkten von Biontech/Pfizer oder Moderna. Als wir vor zehn Monaten anfingen, aus den hunderten von Kandidaten die vielversprechenden herauszusuchen, gingen wir von einer Wirksamkeit zwischen 50 und 70 Prozent aus. Nun liegen alle darüber. Das Vakzin wurde sorgfältig geprüft, für sicher und wirksam befunden und zugelassen.
Ihre Zusammenarbeit mit den Firmen war ja nicht störungsfrei. Das eine Unternehmen begann Umbauarbeiten, ohne etwas zu sagen. Ein anderer Konzern kürzte an einem Freitagabend das EU-Kontingent der Impfdosen um die Hälfte. Waren Sie sauer über die Zusammenarbeit mit den Firmen?
von der Leyen: Die Impfstoffhersteller sind in dieser Pandemie unsere Partner. Und auch sie standen noch nie vor solch einer Herausforderung. Es gibt ständig irgendwelche neue Fragen, die wir meistens gütlich miteinander klären.
Zum Beispiel?
von der Leyen: Da tauchen Schwierigkeiten auf, weil ein Rohstoff plötzlich knapp wird oder die globale Lieferkette stockt. Oder es gibt kurzfristig ein Qualitätsproblem in der Produktion. Die Zusammenarbeit ist sehr eng. So war es auch möglich, unmittelbar nach dem Impfstart Anfang des Jahres die bei Biontech/Pfizer bestellte Zahl an Impfdosen auf 600 Millionen zu verdoppeln.
Trotzdem gibt es Kritik aus dem Europäischen Parlament, der Markt habe nicht funktioniert und jetzt sei ein starker Staat nötig – beispielsweise mit Zwangslizenzen. Was halten Sie davon?
von der Leyen: Da bin ich sehr zurückhaltend. Die Herstellung von Vakzinen ist ein sehr komplizierter Prozess, für den nicht nur 400 verschiedene Komponenten von etwa 100 Firmen gebraucht werden, sondern auch hoch spezialisiertes Personal. Um eine geeignete Produktionsanlage aufbauen zu können, sind normalerweise Jahre nötig. Deshalb halte ich es aktuell für besser, mit den Firmen zusammenzuarbeiten und darauf hinzuwirken, mit ihnen die weltweite Produktion zu verbessern. Das ist das Gebot der Stunde. Denn wenn tatsächlich ein Vakzin an eine Variante angepasst werden muss, liegt das meiste Vorwissen dafür bei den forschenden Unternehmen.
Der Impfstoff von Johnson&Johnson soll zwar bald zugelassen werden, er wird aber nach der Herstellung in der EU in den Vereinigten Staaten abgefüllt. Was tun Sie, wenn wir die Ampullen von dort nicht mehr zurückbekommen?
von der Leyen: Das Unternehmen hat uns versichert, dass es keine Probleme geben wird. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass unsere amerikanischen Freunde die Auslieferung eines in Europa produzierten Impfstoffes an uns blockieren würden.
Der Exportstopp der USA wird also kein Problem sein?
von der Leyen: Aus den Vereinigten Staaten gehen dort produzierte Impfstoffe nicht raus. Das ist bei uns anders, weil Europa um seine Verantwortung für die Nachbarschaft weiß. Wir produzieren also für die Welt, bestehen aber natürlich auf unseren fairen Anteil.
In anderen Ländern werden Menschen in Möbelhäusern geimpft. In Großbritannien verzögert man die zweite Impfung. Was kann Europa von anderen lernen?
von der Leyen: Die USA hatten bereits ein etabliertes Krisennetzwerk, das gleich zu Beginn der Pandemie hochgefahren werden konnte. In dem Punkt waren sie weiter als wir. Deshalb baue ich jetzt mit der Wissenschaft und der Industrie nach diesem bewährten Modell den „Hera Inkubator“ auf. Er soll uns bereits bei den Varianten eine schnellere Reaktion ermöglichen. Wir sind zwar dieses Mal mit nur zehn Monaten nicht schlecht gewesen, aber das muss künftig noch schneller und reibungsloser gehen. Die zweite Impfung einfach hinauszuschieben, halte ich für riskant. Wir sollten uns an die Vorgaben halten, die die Hersteller in ihren ausführlichen klinischen Tests ermittelt haben. Wir strecken deswegen die zweite Impfung nicht.
Musterschülerin, Medizinstudium, Ministerin: Die Karriere der Ursula von der Leyen
Die CDU-Politikerin wurde in Brüssel geboren und hat dort bis 1971 die Europäische Schule besucht.
Dass die 62-Jährige fließend Französisch spricht, ist als Chefin der EU-Kommission von Vorteil.
Ihren Weg ist die Tochter des früheren niedersächsischen Regierungschefs Ernst Albrecht über die Jahre diszipliniert und kämpferisch gegangen. Mit einem Notendurchschnitt von 0,7 im Abitur konnte sie als Musterschülerin gelten.
Dann folgte ein Medizinstudium mit Doktortitel und schließlich die Karriere in der Politik, die sie trotz ihrer Verpflichtungen als Mutter von sieben Kindern durchzog.
Seit 2003 war sie Sozialministerin in Niedersachsen, ab 2005 Bundesfamilienministerin, von 2009 an Arbeitsministerin, danach Verteidigungsministerin. Seit 2019 leitet sie die EU-Kommission.
Aber Europa hinkt hinterher.
von der Leyen: Wir holen auf. Großbritannien hat 17 Millionen erste Dosen verimpft. In der EU sind es 27 Millionen. In Italien mit einer ähnlichen Bevölkerungsgröße wie Großbritannien erhielten sogar schon doppelt so viele Bürger mit der zweiten Dosis den vollen Impfschutz wie im Vereinigten Königreich.
Können Geimpfte schon bald wieder reisen und ihre Freiheiten zurückbekommen? Wann gibt es einen Impfpass?
von der Leyen: Das Impfzertifikat bleibt der erste Schritt und ist schon aus medizinischer Sicht wichtig, weil wir Wirkungen und Nebenwirkungen beobachten müssen. Ob man daraus auch einen Impfpass machen kann, der wieder mehr Freiheit zurückgibt, diskutieren wir am Donnerstag mit den EU-Staats- und Regierungschefs. Denn das ist eine politische Frage. Ich finde wichtig, dass jeder eine faire Chance bekommt, daran teilzuhaben. Ob das in Form eines Impfangebotes ist oder auf andere Weise. Da sind wir aber noch nicht.
In Europa gibt es wieder geschlossene Grenzen. Die Kommission hat Deutschland deswegen abgemahnt. Wurde nichts gelernt aus den Ereignissen vor einem Jahr?
von der Leyen: Es ist richtig und grundsätzlich zulässig, dass Deutschland und andere gezielt dort eingreifen, wo das Virus gestoppt werden muss. Insbesondere die neuen Varianten dürfen sich nicht ausbreiten. Deshalb sind Reisebeschränkungen zielgenauer. Und die sollten verhältnismäßig sein und vorher angekündigt werden. Pauschale Grenzschließungen sind problematisch. Sie treffen jeden und legen im schlimmsten Fall die soziale Infrastruktur eines Nachbarlandes still, weil – wie in Luxemburg – die Mitarbeiter des Gesundheitssystems nicht mehr zur Arbeit fahren können. Unsere Lebensadern müssen wir aufrechterhalten. Deswegen ist es gut, dass Deutschland Ausnahmen eingeführt hat.
Sehen Sie Licht am Ende des Tunnels?
von der Leyen: Ja. Es wird gerade mit der steigenden Zahl der Impfstofflieferungen besser. Deshalb sage ich auch Ihren Lesern: Lasst uns zusammenstehen und diese schwierige Strecke überwinden. Es ist wichtig, dass wir in Europa geeint aus der Krise rauskommen und nach dieser Pandemie sagen können: Wir haben das gemeinsam geschafft.
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