Herr Professor Streeck, Sie sagten vor wenigen Tagen, man dürfe nicht nur auf die derzeit steigenden Infektionszahlen schauen, sondern auch auf die Zahl der Menschen, die erkrankt sind. Aber unsere Intensivbetten sind coronatechnisch gesehen weitgehend leer. So sind Stand Freitag 309 Covid-19-Patienten in intensivmedizinischer Behandlung, davon 164 beatmet. Nicht viel für 83 Millionen Menschen in Deutschland. Ist die Corona-Krise vorbei?
Hendrik Streeck: Nein, das Virus ist nun Teil unseres Lebens geworden, und wir werden uns in den nächsten Jahren dauerhaft damit auseinandersetzen müssen. Wir müssen aber genauso begreifen, dass wir mit dem Virus leben können. Dazu gehört, Wege zu ermöglichen, die wieder eine – neue – Normalität erlaubt, eine Balance aus achtsamer Normalität und bestmöglichem Schutz.
Woher kommt es aber, dass bei uns so wenig Menschen schwer erkranken? Dass die Intensivstationen leer sind? Dass im Vergleich zum Beginn der Pandemie vor einem halben Jahr in Deutschland kaum noch Menschen sterben?
Streeck: Das hat meines Erachtens mehrere Gründe. Zum einen sind derzeit mehr jüngere Menschen infiziert, die eher einen milden Verlauf haben. Hinzu kommt der Effekt, dass wir nur selten schwere Lungenentzündungen im Sommer sehen. Auch unser Verhalten wird eine Rolle spielen. Die Abstandsregeln vermindern die übertragene Virusdosis und führen zu wahrscheinlich milderen Verläufen. Dies wurde zwar nicht für Sars-CoV-2 am Menschen bewiesen, aber für andere respiratorische Viren. Es gibt auch Versuche mit syrischen Goldhamstern, die ähnliches gezeigt haben. Wichtig ist aber auch: Wir leuchten heute durch die viel höhere Testfrequenz die Dunkelziffer der Infizierten viel besser aus als noch im März oder April.
Was heißt das?
Streeck: Früher lagen die offiziellen Zahlen der Infektionssterblichkeit bei gut ein bis zwei Prozent. Doch die Zahl ist tatsächlich zu hoch, da man nur die in Betracht ziehen konnte, die auch getestet und gemeldet wurden. In unserer Untersuchung des ersten deutschen Hotspots im niederrheinischen Landkreis Heinsberg liegt dieser Wert – die sogenannte Infection Fatality Rate – bei 0,36 Prozent. Andere Studien haben inzwischen einen ähnlichen oder sogar niedrigeren Wert gefunden.
Das heißt, dass Covid-19 nicht so gefährlich ist, wie viele ursprünglich dachten?
Streeck: Hier ist es enorm wichtig, die Balance zu finden, denn was „gefährlich“ ist oder „nicht so gefährlich“, obliegt keiner mir bekannten wissenschaftlichen Definition. Aber ich versuche an dieser Stelle einmal, es kommunikativ so zu beschreiben, wie ich es empfinde: Corona ist ein ernst zu nehmendes Virus, aber man darf es nicht überdramatisieren.
Streeck: "Behandlung wird von Tag zu Tag besser"
Wieso sterben aber derzeit immer noch viele Menschen etwa in den USA an oder mit Covid?
Streeck: Gerade in den USA gehe ich von einer massiven Dunkelziffer aus, die viel höher sein wird als bei uns. Es gibt Studien, die zeigen, dass in der Stadt New York schon große Teile der Bevölkerung die Infektion durchgemacht haben könnten – und vielleicht sogar eine Herdenimmunität entstanden ist.
Welche Rolle spielt es, dass man inzwischen weiß, dass bestimmte, schon lange bekannte Medikamente gegen Covid wirken? Das Kortison Dexamethason gegen die unkontrollierte Immunreaktion des erkrankten Körpers, die sich gegen eigene Organsysteme richtet. Und gerinnungshemmende Mittel gegen die Mikrothrombosen, die Covid auslösen kann – mit Infarkten und Embolien als Folge.
Streeck: Diese Medikamente werden in Deutschland in der Behandlung von intensivpflichtigen schweren viralen Lungenentzündungen schon länger eingesetzt, länger übrigens als in einigen anderen Ländern. Die Behandlung wird von Tag zu Tag besser, je mehr wir Erfahrungen haben, und es wird die Zahl der Todesopfer weiter reduzieren können.
Wird es bald weitere Medikamente gegen Covid geben?
Streeck: Als Nächstes vermute ich, werden sogenannte Biologicals auf den Markt kommen. Das sind einzelne hocheffektive Antikörper, die entwickelt wurden anhand eines Patienten, der eine Infektion durchgemacht hatte und eine sehr starke und gute Immunantwort aufgebaut hatte. Diese kann man dann im Labor nachbauen. Das wird die Behandlungsmöglichkeiten erweitern.
Wann werden diese Antikörper auf dem Markt sein?
Streeck: Das kann man nicht mit einem Datum versehen. Aber es ist nicht unrealistisch, dass wir noch in diesem Jahr Markteinführungen erleben.
Sie wirkten schon zu Beginn der Coronakrise besonnener, ruhiger als andere.
Streeck: Ich glaube, der Berufsstand Mediziner bedeutet auch, mit Erkrankungen per se ruhig und besonnen umgehen zu können, Angst wäre hier ein schlechter Ratgeber. Als Arzt und Virologe sah ich es als meine Pflicht an, früh ins Feld zu gehen und Erkrankte und Infizierte zu untersuchen und das Infektionsgeschehen so besser zu verstehen. Wir fuhren über Wochen nach Heinsberg und lernten die Erkrankung direkt und in ihren Facetten besser kennen. Wir haben nicht nur Daten erhoben, sondern ein Gefühl für die Infektion bekommen.
Was ist Ihre Schlussfolgerung daraus?
Streeck: Meine Schlussfolgerung war, basierend auf diesen praktischen Erfahrungen: Das Virus ist gefährlich, aber nicht so gefährlich, wie wir anfangs dachten. Daher rührte auch meine damalige Empfehlung, Friseursalons und Einzelhandel offen zu lassen.
Streeck: Mehr Schweden aus heutiger Sicht nicht verkehrt gewesen
Schweden hat auf einen Lockdown verzichtet und es gibt dort bis heute keine Maskenpflicht, wohl aber Abstandsgebote. Es wies anfangs hohe Todeszahlen auf. Aber seit Mitte des Jahres ist dort die Lage ähnlich stabil wie bei uns. Hätten wir von Anfang an mehr Schweden wagen sollen?
Streeck: Eine Pandemie ist ein Marathon, kein Kurzsprint. Und um den Pandemie-Marathon durchzustehen, braucht man eine kooperierende Bevölkerung. Das erreicht man eher durch Gebote und dadurch, dass die Menschen Eigenverantwortung an den Tag legen. Und weniger durch Verbote und Strafen. Bevor ich diese Frage aber in Bezug auf das Thema Schweden beantworte, erlauben Sie mir diese Bemerkung – das Virus wurde leider politisch, obwohl es das natürlich nicht ist. Wer das schwedische Modell nicht prinzipiell ablehnt, wird von bestimmten Politikern in Deutschland dafür kritisiert, unabhängig davon, wie gut oder wie schlecht dieses Modell funktioniert hat – und heute funktioniert.
Wofür würden Sie plädieren?
Streeck: Ich plädiere dagegen für einen pragmatischen Umgang. Und von diesem Aspekt her kann man sagen: Die Datenlage zeigt jetzt, dass – vom heutigen Stand unseres Wissens – in bestimmten Bereichen mehr Schweden nicht verkehrt gewesen wäre. Aber es sind dort wiederum Fehler gemacht worden, vor allem in den Altenheimen hätten deren Bewohner viel besser geschützt werden müssen. Von daher ist es für mich nicht vordergründig, ob mehr oder weniger Schweden richtig gewesen wäre. Wichtig ist, dass wir aus unseren Fehlern insgesamt lernen und Maßnahmen dementsprechend anpassen, ohne ideologisch zu werden.
Wie soll das gehen?
Streeck: Ganz praktisch. Zum Beispiel: Es gibt inzwischen Schnelltests, die in 15 Minuten ein Ergebnis zeigen. Nach einem solchen Test könnte man jemandem Zutritt zu einem Heim mit besonders gefährdeten Menschen gestatten. Und diese so sehr effektiv schützen. Eine Art Security-Schleuse.
Corona ist neben einem medizinischem längst auch zu einem politischen Problem geworden. Ganze Gesellschaften drohen, sich zu spalten. Wie kann man das Ihrer Ansicht nach verhindern?
Streeck: Wenn verboten wird – Stichworte Alkohol- oder Ausgehverbot – ist das gut für einen Sprint in der Pandemie. Aber für einen Marathon braucht es mehr. Regeln müssen einen Sinn ergeben, denn am Ende müssen alle Bürger mitmachen, alle. Das erreicht man aus meiner Erfahrung weniger mit Dogmatik, sondern, ich wiederhole mich gerne, durch pragmatische Lösungen. Dann, wenn möglichst alle eigenverantwortlich handeln, kommen wir schneller zu guten und besseren Lösungen als die, die wir jetzt anwenden müssen.
Zur Person: Hendrik Streeck kam 1977 in Göttingen zur Welt. Er studierte zunächst Musikwissenschaft und Betriebswirtschaft, wechselte dann aber zur Medizin. Seit 2019 leitet er das Institut für Virologie und HIV-Forschung in Bonn.
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