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Interview: Sir Christopher Clark: Für die politische Mitte geht es "um Leben und Tod“

Interview

Sir Christopher Clark: Für die politische Mitte geht es "um Leben und Tod“

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    Der Historiker Christopher Clark macht sich Sorgen um Europa.
    Der Historiker Christopher Clark macht sich Sorgen um Europa. Foto: Hannibal, dpa

    Wenn EU-Politiker Krisen und Konflikte in Europa analysieren, spielen sie gerne mit dem Titel Ihres Werkes „Die Schlafwandler“. Es handelt davon, wie der Kontinent gewissermaßen in den Ersten Weltkrieg hineinwandelte. Ist das nicht etwas zu alarmistisch?

    Christopher Clark: Nein, für alarmistisch halte ich das nicht. Eher für eine vorsichtige, sorgenvolle Haltung, die angesichts der Weltlage gerechtfertigt ist. Es geht mir nicht darum zu sagen, dass die Situation mit der vor dem Ersten Weltkrieg in allen Punkten vergleichbar ist. Das wäre genauso dumm, wie die Behauptung Putin ist gleich Hitler. Aber es gibt Parallelen: Wie vor 1914 sind wir in einer Situation, in der durch Zufälle gefährliche Konflikte entstehen können.

    Wie konnte es so weit kommen?

    Clark: 1989 glaubte man, dass sich nach der Rivalität zwischen Westen und Osten alles der Hegemonialmacht USA unterordnen würde. Doch was haben wir heute? Wir haben Russland und China als besorgniserregende Faktoren, wir haben Regionalmächte, wie den Iran oder die Türkei, die benachbarte Staaten kontrollieren wollen. Wir hatten die weltweite Finanzkrise, die das Vertrauen in die Finanzwelt stark beschädigt, wenn nicht gar zerstört hat. Kurzum: Es gibt keine direkte Analogie zu den Schlafwandlern von 1914, aber wie damals funktionieren unsere Systeme nicht mehr richtig.

    Oft heißt es, dass die EU entscheidend dazu beigetragen hat, dass Europa nach 1945 – mit wenigen Ausnahmen – von Kriegen verschont geblieben ist. Ist das nicht vielmehr ein Verdienst der Nato?

    Clark: Das ist ja jetzt auch eines der Argumente der Brexit-Befürworter, die behaupten „wir verdanken der EU gar nichts“. Natürlich war die Nato seit dem Zweiten Weltkrieg stabilisierend. Aber die EU hat eine sehr erfolgreiche Friedenspolitik auch im Sinne der Befriedung früherer Feinde gemacht. Denken Sie an die Demokratisierung Spaniens nach dem Tod des Diktators Franco oder an Irland.

    Die Union scheint insofern ein Spiegelbild ihrer Mitgliedsstaaten, als dass ein sich verfestigender Pessimismus fast überall um sich greift. Wie nehmen Sie das wahr?

    Clark: Das trifft absolut zu. Ich kann mich nicht an ein solches Ausmaß an Ratlosigkeit erinnern. Da gibt es die europafeindlichen Bewegungen von rechts und von links. Das sind Symptome oder auch Folgen der Krise – ganz nach dem Motto: was war zuerst da, die Henne oder das Ei?

    Wann fing das an?

    Clark: Nach dem Ende des Kalten Krieges. Zuerst gab es eine Euphorie. Doch dann zeigte sich, dass auch die liberalen Demokratien nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes wie gelähmt waren. Nehmen wir die beiden Irak-Kriege oder das Beispiel Afghanistan. Die USA glaubten an das Konzept „Nation Building“, also den Export von Demokratie. Doch diese Idee endete in Chaos und Massensterben. Es scheint fast so, als seien die liberalen Demokratien in eine Sinnkrise geraten sind, weil ihnen das Gegengewicht Warschauer Pakt abhandengekommen ist.

    Ist uns der Glaube an die Zukunft verloren gegangen?

    Clark: Es sieht wirklich so aus. Umso wichtiger ist, dass Europa endlich wieder anfängt, dass Thema Zukunft zu besetzen.

    In Ihrem aktuellen Buch „Von Zeit und Macht“ beschreiben Sie, wie populistische Gruppen und Parteien eine idealisierte Vergangenheit als Ideal für die Zukunft glorifizieren. Da wird eine Gesellschaft propagiert, in der die herkömmlichen Rollenbilder für die Familie gelten, Homosexualität und Zuwanderung geächtet sind und der Nationalstaat das Maß aller Dinge ist. Für wie bedrohlich halten Sie das?

    Clark: Das ist sehr bedrohlich. Mit dem Satz „Wir wollen unter uns sein“ hat die diese ganze Brexit-Sache begonnen.

    Wie fällt Ihre Analyse mit dem Blick auf Deutschland und die AfD aus?

    Clark: Am Anfang dachte ich, das sind nur ein paar Spinner. Doch das sehe ich heute komplett anders. Das Problem ist, dass CDU und die SPD den Leuten am linken und rechten Ende des politischen Spektrums kaum zuhören. Man hätte viel früher hellhörig werden müssen. Nicht jeder, der AfD wählt, ist gleich ein Nazi. Ich meine damit nicht Leute wie Björn Höcke, bei denen jede Diskussion zwecklos ist. Ich meine eher Leute, die ich als kluge Konservative oder kluge Linke kennengelernt habe, die jetzt darüber nachdenken, radikal zu wählen. Klar ist für mich, dass wir uns in einer Notlage befinden. Es geht um Leben oder Tod für die politische Mitte.

    Was müsste die Politik tun, um solchen Tendenzen entgegenzutreten?

    Clark: Wir müssen pragmatisch nach Lösungen suchen und mit kühlem Kopf alle Optionen abwägen, statt in Dogmatismus zu verfallen. Lagerkämpfe sind der völlig falsche Weg.

    Wie kann man die politische Lähmung in der EU überwinden? Der französische Präsident Emmanuel Macron beschwört ja geradezu die Zukunft eines modernen Europas.

    Clark: Die mittlerweile berühmte Rede Macrons in der Pariser Universität Sorbonne im September 2017 kam mir vor wie die Worte eines einsamen Rufers in der Wüste. Da gab es eine ganze Reihe konkreter Ideen, um der EU den Glauben an ihre Zukunft zurückzugeben.

    Die Reaktionen aus der EU waren ja vorsichtig gesagt eher zurückhaltend.

    Clark: Das ist ja das Unfassbare. Auf diese mitreißende und emotionale Rede gab es kaum Antworten, geschweige denn aus Deutschland. Man hat nicht gesehen, dass das ein Signal aus Frankreich war. Daran zeigt sich, wie gelähmt die EU ist. Viele haben sich in ihre Festung zurück gezogen. Mich hat bewegt, dass Macron von Europa als Horizont gesprochen hat. „Es beschützt uns und es bietet uns eine Zukunft“, sagte der Präsident. Wenn wir uns zurücklehnen und nichts mehr tun für das Projekt Europa, dann wird uns die Vergangenheit einholen.

    Sehen Sie die Gefahr, dass der Brexit Nachahmer findet?

    Clark: Ich gehörte politisch nie einem Lager an. Aber in der Brexit-Debatte habe ich mich leidenschaftlich engagiert. Als ich Großbritannien zu meiner Wahlheimat machte, war die EU-Mitgliedschaft ein Teil davon. Insofern habe ich das Gefühl, man nimmt mir ein Teil dieser Wahlheimat weg. Ich mache mir auch Sorgen um das Wohlergehen des Landes und die negativen Folgen für die EU. Ich glaube aber nicht, dass der Brexit zu einem Crash, also zu einer Katastrophe führt. Ich fürchte eher ein langsames Abdriften. So könnte der Brexit für potenzielle Nachahmer ein erstrebenswertes Modell bleiben.

    Muss die EU mit ihren – noch – 28 Mitgliedern nicht endlich davon wegkommen, alles im Konsens regeln zu wollen?

    Clark: Die EU ist handlungsunfähig. Absolut. Was mich stört, ist auch, dass zu viele rote Linien gezogen werden. Wenn man zum, Beispiel sagt, dass Europa am Ende ist, wenn der Euro scheitert. Es muss möglich sein, einen Schritt zurückzugehen, anstatt immer großen Visionen nachzuhängen. Es ist besser, vor dem Sturm auch mal wie weiches Gras zurückzuweichen und dann wieder aufzustehen, anstatt sich zerschmettern zu lassen. Gleichzeitig muss es auch möglich sein, Regierungen wie der in Ungarn klar zu sagen: Wenn ihr nicht dabei sein wollt, ihr wisst wo der Ausgang ist.

    Was wünschen Sie sich von der Europawahl?

    Clark: Alle sollten zur Wahl gehen. Vor allem diejenigen, die Europa lieben, sollten wissen, dass es ohne ihr Zutun nicht geht. Zu viele meinen, die EU ist ein großes Schwungrad, das sich immer und wie von selbst dreht. Doch das ist nicht so. Die Menschen sollten darüber nachdenken, wie Europa ohne EU aussehen würde. Nur noch Nationalstaaten, ohne institutionalisierten Ausgleich und Balance. Das wäre katastrophal.

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