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Interview: Sie kennen ihn nicht? Das ist Deutschlands mächtigster Mann

Interview

Sie kennen ihn nicht? Das ist Deutschlands mächtigster Mann

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    Der 45-jährige hessische CDU-Bundestagsabgeordnete Helge Braun ist seit März Angela Merkels Kanzleramtsminister: „Unsere Wahrnehmung ist eher durchwachsen“, räumt er ein. 
    Der 45-jährige hessische CDU-Bundestagsabgeordnete Helge Braun ist seit März Angela Merkels Kanzleramtsminister: „Unsere Wahrnehmung ist eher durchwachsen“, räumt er ein.  Foto: Inga Kjer, Imago

    Herr Braun, wie sehr hilft Ihnen Ihre Ausbildung als Narkosearzt bei Ihrer Aufgabe als Kanzleramtsminister?

    Braun: Ich würde schon sagen, sie hilft mir sehr. Denn die Notfall- und Intensivmedizin ist geprägt davon, in komplexen Situationen gut organisiert zu sein, Abläufe zu strukturieren und die Zusammenarbeit von Menschen zu koordinieren. Das tun wir hier auch, ebenfalls unter einem hohen Zeitdruck, wenn auch nicht unter einem so hohen, wie in der Notfallmedizin. Auf den ersten Blick ist das hier natürlich eine völlig andere Welt als eine Notfall-Station, aber was die Tugenden, die Abläufe und den Stil angeht, ist schon vieles gleich.

    Im OP steht der Anästhesist ja meist im Schatten der Chirurgen. Ist das mit Ihrer Position im Kabinett vergleichbar? Der Kanzleramtsminister wird ja in der Öffentlichkeit viel weniger wahrgenommen, als die Kanzlerin oder die Fachminister…

    Braun: Klar, ein Patient kann sich ja meist viel besser an den Arzt erinnern, der ihn operiert hat oder auch an den, der ihm in der Phase der Reha geholfen hat, weniger an den, der seine Narkose eingeleitet hat. Insofern passt der Vergleich schon gut, denn der Kanzleramtsminister hat ja viel weniger Möglichkeiten, inhaltliche Schwerpunkte zu setzen. Nach ihm wird kein Rentenpaket benannt, keine Steuersenkung trägt seinen Namen. Aber dabei, diese Dinge zu ermöglichen, hat er doch häufig eine wichtige Rolle.

    Ist Frau Merkel, um im Vergleich zu bleiben, die Chefärztin? Wie eng ist Ihr Kontakt zur Bundeskanzlerin?

    Braun: Der Kanzleramtsminister und die Bundeskanzlerin müssen schon eine ganz enge, vertrauensvolle und gut eingespielte Zusammenarbeit haben. Mein Vorteil ist, dass ich ja schon in den vier Jahren zuvor im Kanzleramt arbeiten durfte und deshalb kennen wir uns sehr gut, verstehen uns praktisch blind.

    Wie oft treffen Sie sich?

    Braun: Wenn die Kanzlerin in Berlin ist, täglich. Das erfordert die hohe Geschwindigkeit des Politikbetriebs. Jeden Tag treten neue Themen auf, wo man sich abstimmen muss.

    Und wenn Sie ihre Aufträge von der Kanzlerin bekommen haben, wie geht es dann weiter?

    Braun: Dann folgen die Absprachen mit den zuständigen Ministern, da setzen wir uns an einen Tisch und suchen nach Lösungen, nach Kompromissen. In den vergangenen Tagen habe ich mich fast täglich mit Hubertus Heil, dem Arbeits- und Sozialminister unterhalten, als es um das Rentenpaket und die Arbeitslosenversicherung ging. Die Arbeitswelt, die sich ja rasend schnell verändert, ist ein Thema, das uns allen in der Großen Koalition sehr am Herzen liegt. Da muss es auch sehr viel um Weiterbildung gehen. Alle Arbeitnehmer sollen ja über den gesamten Zeitraum ihrer Berufstätigkeit, wir reden ja von 45 Jahren, auf der Höhe der Zeit bleiben. Da arbeiten wir an guten Lösungen. Die Bundesregierung wird demnächst mit den Sozialpartnern zu einer Klausurtagung zusammenkommen und anschließend dann konkrete Maßnahmen angehen.

    Welche Diagnose stellen Sie der Großen Koalition nach fast einem halben Jahr? Es ging ja sehr turbulent zu…

    Braun: Da werden viele jetzt widersprechen oder zumindest erstaunt sein, aber die Bundesregierung hat sehr intensiv gearbeitet in dieser Anfangsphase. Doch vieles, was wir auf den Weg gebracht haben, ist durch den Streit um die Migrationspolitik weniger stark beachtet worden. Ich finde unsere Steuerentlastung für Familien, die Erhöhung des Kindergelds, die Lösung wichtiger Fragen wie der des Familiennachzugs, Gesetze wie zur Musterfeststellungsklage, die die Verbraucherrechte stärkt und jetzt das Rentenpaket – das sind so viele Dinge, die wir hinbekommen haben, die sehr bedeutend sind. Da haben wir schon ein richtiges Paket am Anfang geschafft, was auch daran liegt, dass wir diese Themen im Koalitionsvertrag schon sehr präzise vereinbart haben. Aber das hat vor der Sommerpause nicht das Bild der Regierung dominiert, darum ist unsere Wahrnehmung eher durchwachsen. Aber wer auf die Fakten schaut, sieht, welche Erfolge zur Entlastung der Bürger schon erzielt wurden.

    Der Streit um die Migrationspolitik zwischen CDU und CSU hätte das Bündnis ja fast gesprengt… Hätten Sie da manchem manchmal gern eine Beruhigungspille verabreicht, oder gar eine Spritze?

    Braun: Das war schon eine sehr ernste Situation mit negativen Folgen in der Wahrnehmung. Streit an sich wird einer Regierung nie nutzen. Ich hätte die Auseinandersetzung natürlich gern intern geführt und dann das Ergebnis präsentiert. Und nicht die Auseinandersetzung auf breiter Bühne gesucht.

    Hat sich bei der Suche nach Kompromissen die CSU oder die SPD als der heiklere Partner für die CDU erwiesen?

    Braun: Nein, es gibt ja zwischen CDU und CSU eine ganz andere inhaltliche Übereinstimmung, als mit der SPD. Deshalb habe ich ja auch während der Koalitionsverhandlungen, als die Leute draußen wissen wollten, was wir da eigentlich bis tief in die Nacht machen, gesagt, dass es große Unterschiede zwischen Union und SPD gibt, die wir überbrücken müssen. Der an Maßnahmen so reiche Koalitionsvertrag zeigt, dass es geht, aber in vielen Fragen haben wir eben ganz grundsätzlich verschiedene Auffassungen, das ist bei CDU und CSU anders. Eigentlich stimmen wir auch bei der Migration im Grundsatz überein, aber da sind es die kleinen Unterschiede, die dann so eine riesige Wirkung entfalten.

    In den kommenden Wochen kommt ja gleich eine ganze Reihe von Gesetzentwürfen aus den Ministerien heraus. Wie ist Ihr Zeitplan für den Herbst?

    Braun: In der zweiten Jahreshälfte wird es um die Beratungen für den Haushalt 2019 gehen, den ersten dieser Koalition, der ohne den Zeitdruck der verzögerten Regierungsbildung entsteht. Und dann wird sich das Kabinett noch einmal ganz intensiv mit Zukunfts-, Innovations- und Digitalfragen beschäftigen.

    Erwarten Sie, dass die Landtagswahlen in Bayern und Hessen das Regieren jetzt erschweren?

    Braun: Ein Koalitionsvertrag mit 177 Seiten hat Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist, dass es viele Dinge gibt, die wir abarbeiten können, das geht auch in Wahlkampfzeiten. Natürlich wird es in den Ländern und auch auf Bundesebene die eine oder andere Diskussion geben, aber ich glaube nicht, dass das unsere Vorhaben beeinträchtigen wird.

    Zu Ihren Kernaufgaben gehört der Bereich Digitalisierung. Andere Länder sind da deutlich weiter. Wie groß ist der Aufholbedarf und wie kann Deutschland den Abstand verkürzen?

    Braun: Wir haben natürlich einen Führungsanspruch in diesem Bereich, Deutschland lebt von Hoch- und Spitzentechnologie, das ist die Grundlage unseres Wohlstandes. Ich teile aber die Analyse nicht, dass wir überall so furchtbar hinterherhinken. An deutschen Instituten, in der Industrie und bei cleveren Mittelständlern sieht man, dass wir technologisch toll aufgestellt sind. Doch wir müssen natürlich viel schneller werden bei der Schaffung der Infrastruktur. Die Bürger sind nicht mehr bereit, langsame Internetanschlüsse in den Haushalten oder Funklöcher zu akzeptieren, diese Probleme werden wir lösen.

    Müssen wir mit unseren Daten freigiebiger sein oder besser auf sie aufpassen?

    Braun: Es wäre fatal zu sagen, datengetriebene Geschäftsmodelle wollen wir nicht, denn dadurch blieben große Wertschöpfungspotenziale ungenutzt. Wir wollen aber auch keine Situation wie in den USA, wo persönliche Daten von Nutzern durch Unternehmen analysiert oder gar wie in China, wo der Staat die Bürger über das Internet beeinflusst und kontrolliert. In Europa wird viel mehr Wert auf Datenschutz gelegt und ich wünsche mir, dass ganz normale Menschen, die keine Experten sind, Apps und soziale Medien so sicher nutzen können, dass sie nicht ständig sensible Informationen ungewollt über sich preisgeben. Ich glaube, ein solches Modell könnte sich am Ende sogar zum weltweiten Exportschlager entwickeln. Es gibt Chancen für digitale Produkte und Anwendungen künstlicher Intelligenz, die zwar auf Daten, aber eben nicht auf persönlichen Daten basieren.

    Zum Beispiel?

    Braun: Denken wir etwa an eine App, die anhand einer Aufnahme von einem Leberfleck erkennt, ob Hautkrebs vorliegt oder nicht. Da braucht es viele Aufnahmen von diagnostizierten Hautstellen, damit die Software lernen kann, aber nicht die Namen der jeweiligen Patienten.

    Viele Bürger empfinden Digitalisierung und künstliche Intelligenz als bedrohlich, fürchten, durch Algorithmen oder Roboter ersetzt zu werden. Auch Experten sehen die Gefahr, dass viele Arbeitsplätze verloren gehen. Wie schätzen Sie diese Risiken ein?

    Braun: Als Bundesregierung ist unser Ziel Vollbeschäftigung, wir reden im Moment von Fachkräftemangel und sind überzeugt, dass auch in Zukunft jeder einzelne Mensch gebraucht werden wird. Aber die Herausforderungen sind da und deshalb werden wir uns auch so intensiv mit dem Thema Aus- und Weiterbildung beschäftigen, um jedem Einzelnen in diesem Wandel beizustehen. Manche Tätigkeiten werden verschwinden, bei manchen, die sehr unangenehm oder gesundheitlich riskant sind, hoffe ich das sogar. Insgesamt aber wird uns die Arbeit nicht ausgehen in Deutschland.

    Von Ihnen heißt es ja, dass sie trotz einer gewaltigen Arbeitsbelastung immer fröhlich und gelassen bleiben. Wie schaffen Sie das?

    Braun: Ich verstehe ja manche Leute nicht, die sich in der Politik erst um Verantwortung bewerben und sich dann über ihre Tätigkeit beschweren. Freude und Gelassenheit gehören schon dazu, meine Aufgabe mache ich sehr gerne und ich empfinde es als riesiges Privileg, an so vielen Entscheidungen der Bundesregierung beteiligt zu sein. Es ist tatsächlich so wie auf der Intensivstation, wo der Narkosearzt zwar nicht im Rampenlicht steht, aber doch seinen Beitrag dazu leistet, dass im OP nichts schief geht.

    Zur Person Helge Braun hatte bereits elf Jahre Bundestag und vier Jahre als Staatsminister im Kanzleramt hinter sich, als der 45-Jährige im März Nachfolger von Peter Altmaier Chef des Kanzleramtes und Bundesminister für besondere Aufgaben wurde. Der Narkosearzt aus dem hessischen Gießen koordiniert die Regierungspolitik und führt den Dialog mit den Ministerien,

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