Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Interview: Peer Steinbrück: Wahlkampf im Wartesaal

Interview

Peer Steinbrück: Wahlkampf im Wartesaal

    • |
    Trotz flauer Umfragewerte gibt SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück das Rennen im Bundestagswahlkampf nicht verloren – und erinnert an die knappen Wahlen 2002 und 2005.
    Trotz flauer Umfragewerte gibt SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück das Rennen im Bundestagswahlkampf nicht verloren – und erinnert an die knappen Wahlen 2002 und 2005. Foto: Maurizio Gambarini (dpa)

    Mit einem Fest im Herzen Berlins, an dem rund 200 000 Menschen teilnahmen, hat die SPD am Wochenende ihren 150. Geburtstag gefeiert und die heiße Phase ihres Wahlkampfes eingeläutet. Trotz flauer Umfragewerte gibt Kanzlerkandidat Peer Steinbrück das Rennen nicht verloren – und erinnert an die knappen Wahlen 2002 und 2005.

    Die Wirtschaft wächst, die Steuereinnahmen steigen – warum sollen die Deutschen da die Regierung wechseln?

    Steinbrück: Weil wir vier Jahre lang Stillstand gehabt haben. Weil dieses Land nicht nur verwaltet werden darf, sondern weil man dieses Land gestalten muss. Weil wir faire Löhne brauchen, bezahlbare Mieten, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und mehr Gemeinwohlorientierung statt Marktradikalismus. Es gibt jede Menge zu tun.

    Peer Steinbrück: Medienforscher irren sich immer wieder

    Sozialdemokraten und Grüne kommen in den Umfragen gemeinsam nur auf 40 Prozent. Woher nehmen Sie Ihren Glauben an Rot-Grün noch?

    Steinbrück: Die Meinungsforscher irren sich immer wieder, denken Sie nur an die Wahlen 2002 und 2005. Viele Menschen entscheiden sich erst in den letzten zwei, drei Wochen, ob sie wählen gehen und wen sie dann wählen. Es gibt zehn Millionen Frauen und Männer, die zwischen 1998 und 2005 schon mal SPD gewählt haben. Wenn ich einen Teil von ihnen aus dem Wartesaal für die SPD an die Urnen bringen kann, sind alle Umfragen Makulatur.

    SPD will unter anderem flächendeckenden Mindestlohn und eine Mietpreisbremse einführen

    Was würde sich denn als Erstes ändern, wenn Sie Kanzler werden?

    Steinbrück: Die wichtigsten Maßnahmen eines 100-Tage-Programmes werden ein flächendeckender Mindestlohn, die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern, die Abschaffung des Betreuungsgeldes und Investitionen in zusätzliche Betreuungsplätze sein. Und ich denke, dass wir auch sehr schnell eine Mietpreisbremse einführen werden.

    Im Moment sieht es so aus, als kenne die Republik nur noch ein Thema – die Abhöraffäre. Strapazieren Sie damit nicht die Geduld des Publikums?

    Steinbrück: Nein. Nur weil es nicht wehtut, wenn man angehört wird, ist das ja kein vernachlässigbares Problem. Hier werden millionenfach Grundrechte verletzt! Die Frage ist doch, ob wir noch Herr im eigenen Haus sind. Was aber tut diese Bundesregierung, um den Skandal aufzuklären? Ich frage: Werden wir immer noch millionenfach abgefischt in unseren Telefonaten und im Internet? Werden deutsche Unternehmen ausgeforscht? Werden deutsche Regierungsstellen oder europäische Einrichtungen abgehört?

    Peer Steinbrück vermisst Entschlossenheit bei Kanzlerin Angela Merkel im Abhör-Skandal

    Sie behaupten, Angela Merkel habe ihren Amtseid verletzt, der sie dazu verpflichtet, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Wie hätte ein Kanzler Steinbrück denn reagiert?

    Steinbrück: So wie Gerhard Schröder 1999 im so genannten Echolon-Skandal. Er hat von den Amerikanern damals die Zusage bekommen, dass deutsche Rechte und deutsche Interessen durch das neue Spionagesystem nicht verletzt werden. Diese Entschlossenheit vermisse ich bei seiner Nachfolgerin.

    Neuerdings attackieren Sie die Kanzlerin auch persönlich etwas heftiger, indem Sie ihr unter anderem fehlende Leidenschaft für Europa vorwerfen. Wie verträgt sich das denn mit ihren hohen Popularitätswerten?

    Steinbrück: Entschuldigung, aber die Kanzlerin ist doch nicht sakrosankt. Sollen wir leise pfeifend um sie herumtanzen? Frau Merkel steht nicht hinter Glas. Wir sind im Wahlkampf – und sie hat in vier Jahren zwar 50 Gipfel veranstaltet, aber kaum in die Zukunft unseres Landes investiert. Ja, sie provoziert niemanden, sie eckt nirgendwo an, aber das heißt auch, dass sie keine Richtung vorgibt. Sie wartet lieber ab, wie sie ja selber sagt.

    Mit einer Art Marshallplan wollen Sie Europas Sorgenstaaten wieder auf sicheres Terrain führen. Wie soll der aussehen?

    Steinbrück: Wenn wir das Geld wie im Moment einfach nur in ein schwarzes Loch werfen – das bringt gar nichts. So wie Deutschland nach dem Krieg auch geholfen wurde, müssen wir diesen Ländern nun mit Wachstumsimpulsen helfen, wieder Wind unter die Flügel zu bekommen. Mit den Mitteln aus den verschiedenen europäischen Fonds und einer Besteuerung von Finanzgeschäften muss die Wirtschaft der schwächelnden Länder angekurbelt und die gefährlich hohe Jugendarbeitslosigkeit bekämpft werden.

    Einige Sozialdemokraten nehmen Ihr Motte „Das Wir entscheidet“ offenbar nicht ernst. Zuletzt hat Franz Müntefering heftige Kritik an Ihrer verunglückten Nominierung geübt und indirekt auch Parteichef Sigmar Gabriel angegriffen. Warum beschäftigt die SPD sich gerade jetzt mit sich selbst?

    Steinbrück: Das war eine kurze Passage in einem langen Interview. Dass meine Nominierung im Sommer 2012 strategisch nicht vorbereitet war – das ist doch allgemeiner Erkenntnisstand. Wir reden aber jetzt nicht mehr über die Wahlkampfführung. Wir machen Wahlkampf.

    Müntefering findet auch, dass die SPD sich deutlicher zu den Reformen der Schröder-Jahre bekennen sollte. Schlagen Sie mit einem gesetzlichen Mindestlohn, höheren Steuern und höheren Beiträgen zur Pflegekasse nicht genau den umgekehrten Weg ein?

    Steinbrück: Nein. Die Agenda 2010, so wichtig und richtig sie war, hat auch zu Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt geführt, die wir korrigieren müssen. Unter anderem erleben wir inzwischen einen breiten Missbrauch von Leiharbeit, Zeitarbeit und Werkverträgen. Die Mini-Jobs wuchern aus.

    SPD will Steuern für die oberen fünf Prozent der Spitzenverdiener erhöhen

    Warum wollen Sie eigentlich auch Gut- und Besserverdienern die Kindergartengebühren erlassen? Bei der Steuer sind sie nicht so großzügig.

    Steinbrück: Wir haben gesagt, wir wollen einige Steuern für einige erhöhen – nämlich die für die oberen fünf Prozent, deren Einkommen und Vermögen in den letzten zehn Jahren deutlich gestiegen sind. Einen Teil dieser Mehreinnahmen werden wir dann zur Verfügung stellen, um die Kindergartengebühren Schritt für Schritt abzuschaffen. Davon profitieren vor allem die mittleren und unteren Einkommensschichten, also die alleinerziehende Verkäuferin oder die Arbeiterin bei Audi in Ingolstadt.

    Wer ist eigentlich der größte Gegner des Kandidaten Steinbrück? Die Kanzlerin selbst – oder die diffuse Sehnsucht der Deutschen nach einer Großen Koalition?

    Steinbrück: Warten wir mal ab. 2002 hat Edmund Stoiber schon gedacht, er habe gewonnen. 2005 lag Frau Merkel sieben, acht Wochen vor der Wahl bei 45 Prozent, um am Ende bei 35 Prozent zu landen. Wenn es uns gelingt, unsere Anhänger zu mobilisieren, schaffen wir den Wechsel. Der Umkehrschluss aber gilt auch: Wenn es uns nicht gelingt, verlieren wir. So einfach ist das.

    Bei der letzten Wahl hat die SPD vor allem in Bayern stark verloren. Müssen Sie nun in

    Steinbrück: Was Sie in einem Bundesland wie in Bayern verlieren, können Sie in einem Stadtstaat nicht wieder gutmachen. Insofern spielen Bayern und Baden-Württemberg natürlich eine Rolle. Wenn ich mich recht erinnere, lag die SPD in Bayern etwa acht Prozent unter dem Bundesdurchschnitt der SPD. Sollte es uns gelingen, diesen Rückstand auf vier Prozent zu halbieren, sieht die Welt gleich sonniger aus.

    Theoretisch könnte sich ein Sozialdemokrat auch als Kanzler einer rot-grünen Minderheitsregierung von der Linkspartei tolerieren lassen. Sie selbst schließen das aus – aber gilt das auch für den Rest der Partei?

    Steinbrück: Nicht nur ich, auch Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier haben eine Koalition mit der Linkspartei und eine Tolerierung durch sie ausgeschlossen. Dass CDU und CSU immer wieder vor einer solchen Konstellation warnen, ist ein ziemlich durchsichtiges Manöver. Sie wollen die Wähler in eine Geisterbahn führen, in der sie im Dunkeln plötzlich vom Sozialismus angefallen werden. Das hat vielleicht noch in den ersten Jahrzehnten der Republik funktioniert, aber nicht mehr im 21. Jahrhundert.

    Peer Steinbrück mag an eine Große Koalition nicht denken

    Und wenn es für Sie nicht reicht am 22. September? Wird Sigmar Gabriel dann Vizekanzler einer Großen Koalition?

    Steinbrück: Diese Frage höre ich immer wieder – aber sie stellt sich nicht. Wir kämpfen bis um 17.59 Uhr am Wahltag für eine rot-grüne Koalition und beschäftigen uns nicht mit Szenarien, die wir nicht wollen.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden