Frau Weisband, die Zahl antisemitischer Übergriffe in Deutschland und der Welt hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Woran liegt das?
Marina Weisband: Antisemitismus nimmt immer zu, wenn es gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse gibt. Globalisierung, Digitalisierung und der Klimawandel tragen zu einer allgemeinen Verunsicherung und zu einem gefühlten Kontrollverlust bei. Damit kommen manche Menschen besser klar, andere schlechter. Diejenigen, die nicht gelernt haben, Kontrollverlust und Komplexität auszuhalten, erzählen sich dann eine Geschichte, die die Welt vereinfacht. Und in dieser Geschichte muss es die Guten und die Bösen geben. Die Bösen können zum Beispiel Menschen anderer Hautfarbe sein. Aber oft sind es auch die Juden.
Führt die Pandemie zu mehr Antisemitismus?
Weisband: Auf jeden Fall. Corona ist eine globale Krise. Sie greift tief in das Leben der Menschen ein. Viele Menschen haben ein emotionales Bedürfnis daran zu glauben, dass es auch während der Corona-Krise eine Gruppe gibt, die Geschehnisse kontrolliert. Das müssen nicht zwangsläufig die Juden sein. Es kann auch Bill Gates, die Pharmalobby oder die Regierung sein. Aber die Geschichte, dass die Juden vieles kontrollieren, ist so alt und so tradiert, dass sie oft mitschwingt. Juden gehören deshalb auch in der Corona-Krise zu den Sündenböcken.
Was empfinden Sie, wenn Sie bei Anti-Corona-Protesten Menschen mit gelben Sternen am Ärmel durch deutsche Innenstädte marschieren sehen?
Weisband: Es verletzt mich, denn ich bin mit vielen Familiengeschichten aufgewachsen, die mir klar gemacht haben, was es damals bedeutete, von der eigenen Gesellschaft plötzlich abgeschnitten zu werden. Und zwar nicht aufgrund einer Entscheidung, die man traf – lasse ich mich impfen oder nicht – sondern aufgrund seiner Geburt. Impfverweigerer und Impfverweigerinnen werden zwar für ihre Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, kritisiert. Aber die eigene Menschlichkeit zu verlieren, ist etwas radikal anderes. Doch dafür haben diese Menschen offensichtlich kein Verständnis. Wenn sie jetzt die Geschichte erzählen „Wir sind die neuen Juden“, versuchen sie die Erinnerung daran zu löschen, was die Shoa bedeutete.
Als Jugendliche haben Sie geschrieben, Deutschland sei eines der judenfreundlichsten Länder der Welt. Würden Sie das heute noch unterschreiben?
Weisband: Nein! Zwar ist Deutschland – auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie Frankreich – für Juden immer noch eines der sichereren Länder. Aber auch Deutschland hat ein Antisemitismus-Problem. Ein ernstes!
Tragen Sie deshalb nicht mehr Ihre Davidstern-Kette?
Weisband: Der Davidstern ist für mich vor allem ein religiöses Zeichen, ein Schutzschild. Ich bringe damit nicht notwendigerweise meine Zustimmung mit der gesamten Politik des israelischen Staates zum Ausdruck. Aber als im Frühling 2021 der Israel-Konflikt mal wieder eskalierte, habe ich online und auf der Straße einen deutlichen Anstieg von Antisemitismus verspürt. Da wollte ich nichts riskieren und habe die Kette abgelegt.
Raten Sie auch anderen Jüdinnen und Juden in Deutschland ihre Religion in der Öffentlichkeit zu verbergen?
Weisband: Ich würde niemals sagen: „Versteckt euch!“ Oder: „Zeigt euch offen, auch wenn Ihr Angst habt.“ Das muss jede und jeder für sich entscheiden. Allerdings: Wenn wir komplett unsichtbar werden, haben die Nazis gewonnen. Ihnen ging es ja auch während der Shoa um die Vernichtung der jüdischen Kultur und Identität.
Sind Sie auf der Straße schon mal antisemitisch angegangen worden?
Weisband: Nein, aber das liegt vielleicht auch daran, dass ich nicht einfach als Jüdin erkennbar bin.
Rechtsextremer Antisemitismus, islamischer Antisemitismus oder linker Antizionismus: Was macht Ihnen am meisten Angst?
Weisband: Antisemitismus ist Antisemitismus. Manche Antisemiten sind rechts, manche sind links, manche sind Muslime. Aber sie sind alle Antisemiten. Antisemitismus macht mir besonders dann Angst, wenn er bei Menschen gedeiht, die potentiell in Positionen von Macht sind. Und weil weder Linke noch Muslime in Deutschland in einer besonderen Machtposition sind, macht mir tatsächlich die rechte Ausprägung am meisten Angst. Und zwar nicht die der Rechtsextremen, sondern jene der Konservativen, die – um Wähler zu gewinnen – Geschichten erzählen, die Anschluss an rechten und rechtsextremem Antisemitismus herstellen sollen.
Wen meinen Sie konkret?
Weisband: Ich meine unter anderem den rechten Flügel der Union. Und ganz konkret Leute wie Hans-Georg Maaßen. Er selbst muss kein Antisemit sein, selbst wenn er Codewörter rechtsextremer Antisemiten wie „Globalisten“ verwendet. Auch wenn er zum Glück nicht in den Bundestag eingezogen ist – Rechte können in deutsche Parlamente einziehen und Macht übernehmen. Irgendwann schreiben sie vielleicht Gesetze, und dann haben sie eine Polizei, die Jüdinnen und Juden die Tür einrennen kann. Schon jetzt gibt es bei der Polizei Antisemitismus. Ich weiß es unter anderem deshalb, weil ich Drohbriefe erhalten habe. Die Absender hatten meine Adresse möglicherweise von einem Polizei-Server.
Welchen Einfluss hat die verstärkte Einwanderung aus muslimisch geprägten Ländern seit 2015?
Weisband: Der Nahost-Konflikt führt natürlich auch zwischen Juden und Muslimen in Deutschland zu gegenseitigem Misstrauen oder auch Ablehnung. Muslimischer Antisemitismus ist ein ernstes Problem. Aber die meisten Muslime in meiner persönlichen Umgebung erlebe ich als cool, nett und solidarisch. Es gibt eine gewisse Solidarität von marginalisierten Gruppen, die genau wissen, wie es ist, gehasst und verfolgt zu werden. Juden und Muslime sind zwei Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft, die weder jüdisch noch muslimisch ist. Und ich glaube, wir könnten gemeinsam sogar einen Beitrag zum Frieden im Nahen Osten leisten, wenn wir es schaffen, uns hier im sicheren Deutschland zusammenzuraufen.
Sie haben keine Berührungsängste gegenüber antisemitisch eingestellten muslimischen Jugendlichen?
Weisband: Nein. Denn im Gegensatz zu Verschwörungstheoretikern sind diese Menschen gut zu erreichen. Sie haben kein emotionales Bedürfnis, Juden zu hassen. Die meisten muslimischen Jugendlichen haben nur eine vage Vorstellung, dass Juden böse sind. Aber wenn man sie mit echten Jüdinnen und Juden konfrontiert, sind diese Einstellungen relativ leicht zu verändern. Je jünger sie sind, desto leichter ist es. Über eine Form des Antisemitismus haben wir übrigens noch nicht gesprochen.
Welche?
Weisband: In Deutschland gibt es einen pathologischen Philosemitismus. Er kann ganz leicht in Antisemitismus umschlagen, nach dem Motto „Wir werden den Juden Auschwitz nicht vergeben“. Diese besondere Form des Antisemitismus entsteht daraus, dass man den Juden die Schuld dafür gibt, sich mit dem Thema Holocaust auseinandersetzen zu müssen. Das ist so ähnlich, als wenn mich ein Mann anflirtet, ich ihn abweise und er mich dann dreckige Schlampe nennt.
Sie sind mit einem nichtjüdischen Mann verheiratet und haben ein gemeinsames vier Jahre altes Kind. Wie erziehen Sie Ihre Tochter?
Weisband: Wenn ich sage, dass ich Jüdin bin, steht das auf sehr wackligen Beinen. Meine Eltern waren nicht sehr religiös und haben die jüdischen Feiertage kaum mit mir gefeiert. Ich befinde mich gerade im Prozess, meine religiöse Identität zu finden. Dabei lerne ich viel und versuche das, was ich gelernt habe, auch an meine Tochter weiterzugeben. Auch wenn ich dabei keine Routine habe, feiere ich jüdische Feiertage mit ihr.
Zur Person: Marina Weisband wurde am 4. Oktober 1987 in Kiew, in der heutigen Ukraine, als Tochter jüdischer Eltern geboren und kam 1994 mit ihren Eltern nach Deutschland. Sie war bis 2012 politische Geschäftsführerin der Piratenpartei, 2018 wurde sie Mitglied der Grünen. Ihr Buch „Frag uns doch! Eine Jüdin und ein Jude erzählen aus ihrem Leben“ von Marina Weisband und Eliyah Havemann erscheint am 13. Oktober im S. Fischer-Verlag. Es hat 192 Seiten und kostet 18 Euro.