Die Vorwürfe gegen die EU-Kommission wegen Pannen und Versäumnissen bei der Impfstoffbeschaffung sind heftig. Können Sie verstehen, dass die Menschen sauer auf die EU sind?
Weber: Die Menschen sind frustriert über ein Leben, das nicht mehr so ist, wie es vor der Pandemie war. Die Impfung ist derzeit die einzige Hoffnung, die wir haben. Ich kann gut nachvollziehen, dass die Bürger enttäuscht sind, weil der Eindruck von Verzögerungen entstand. Es war gut, dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Fehler eingestanden hat. Wenn wir Vertrauen wiederaufbauen wollen, müssen wir ehrlich sein. Und dazu gehört die Feststellung: Es ist nicht optimal gelaufen.
Haben Sie das Gefühl, dass man aus den Fehlern gelernt hat und die Kommission Konsequenzen gezogen hat?
Weber: Die Herausforderungen für alle politischen Ebenen sind enorm. Das gilt für das, was vor Ort bewältigt werden muss, das gilt genauso für die europäische Ebene. Allerdings gehört zur vollen Wahrheit auch, dass die Kommission nicht allein entschieden, sondern alle Mitgliedstaaten und Regierungen einbezogen hat. Und die Impfstoffhersteller sind auch keine Heiligen.
Hat deswegen alles so lange gedauert?
Weber: Die Europäische Union hat drei Grundsatzentscheidungen getroffen, die ich für unverzichtbar halte. Erstens: Die Mitgliedstaaten beschaffen Impfstoffe gemeinsam, damit alle geschützt werden können und wir einen besseren Preis erhalten. Zweitens: Wir entlassen die Hersteller nicht aus ihrer Verantwortung, für ihr Produkt zu haften. Und drittens: Wir geben der Europäischen Arzneimittelagentur genügend Zeit, damit die zugelassenen Vakzine sicher und wirksam sind. Das war alles richtig und notwendig.
Es hat sich herausgestellt, das Biontech von der EU über 50 Euro pro Impfdosis wollte, was 27 Milliarden Euro gekostet hätte. Wirft das ein neues Licht auf die Verhandlungen und den künftigen Umgang mit den Herstellern?
Weber: Dass die Impfstoffhersteller auch keine Heiligen sind, sondern Unternehmen, ist klar. Es ist umso wichtiger, dass die EU gemeinsam verhandelt, weil sie dadurch eine bessere Position hat und bessere Preise erzielen kann.
Ihre Fraktion fordert, zehn Milliarden Euro in die Hand zu nehmen, um Produktionsengpässe zu beseitigen. Bisher hat die Kommission das nicht aufgegriffen. Wo ist der Neuanfang?
Weber: Die Richtung stimmt, aber wir müssen als EU noch größer denken und schneller werden. Wir brauchen die zehn Milliarden als Investitionen in Forschung, Produktion und Logistik. Ich denke, der Staat sollte auch prüfen, eigene Produktionskapazitäten aufzubauen. Und er kann das Wissen seiner Universitäten nutzen und ausbauen. Ich halte es auch für nötig, dass der Staat im Notfall Zwangslizenzierungen vornimmt, wenn ein Unternehmen sich weigert, mit anderen zusammenzuarbeiten, um Vakzine schneller liefern zu können. Alle diese Optionen und einige mehr will ich auf dem Tisch halten. Denn die wichtigste Erkenntnis der vergangenen Monate heißt: Der Markt allein wird es nicht regeln. Wir müssen da die Richtung und unser Recht durchsetzen. Ich will noch ergänzen: Die Produzenten haben über Jahre hinweg europäische Gelder für ihre Forschung bekommen. Das zieht eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung nach sich, aus der sich kein Impfstoffhersteller verabschieden darf.
Der Impfstoff von Johnson&Johnson wird in den Niederlanden und Belgien produziert, aber in den USA abgefüllt. Die EU weiß nicht, ob sie dann die bestellten Kontingente bekommt...
Weber: Der Impf-Egoismus, den wir in den USA und teilweise auch in Großbritannien erleben, ist zwar irgendwo nachvollziehbar, aber eine schwere Belastung. Da sollte Europa jetzt nicht kleinmütig sein. Wenn es keine klaren Zusagen gibt, dass die in Europa produzierten Dosen auch wieder zurückkommen, darf es keine Exportgenehmigung für die Wirkstoffe geben. Wir wollen das Miteinander. Es ist höchste Zeit für einen weiteren G7-Gipfel, bei dem die wirtschaftsstarken westlichen Staaten über funktionierende Lieferketten beraten und diese sichern sowie die Verteilung der Impfdosen auf die Welt diskutieren. Die EU will das. Aber wenn andere nicht dazu bereit sind, müssen wir über ein Exportverbot nachdenken.
Braucht die EU neue Kompetenzen für die Gesundheit als zentrales Thema?
Weber: Ich halte die Gesundheit für ein vergleichbar zentrales Thema für Europa wie Schengen, Euro oder Binnenmarkt. Ein Beispiel für diese Dringlichkeit ist der Kampf gegen den Krebs. Vergleicht man die Zahlen, müssen wir feststellen, dass 2020 dreimal so viele Menschen an Krebs gestorben sind als am Covid-19-Virus. Die Gesundheitsunion wird das nächste große EU-Projekt dieses Jahrzehnts.
Der Aufbaufonds ist beschlossen. Nun geht es an die Umsetzung. Die Angst davor, dass die Gelder nicht zielgerichtet eingesetzt werden könnten, ist groß. Fürchten Sie das auch?
Weber: Der Aufbauplan war die richtige Antwort auf die Einbrüche der Ökonomie. Im vergangenen Jahr hat die EU 6,9 Prozent an Wirtschaftskraft eingebüßt. Es ist ein großes Signal der Solidarität, dass die Europäer diesen Rückschlag gemeinsam wieder aufholen wollen. Aber dieses Geld muss in Zukunftsprojekte fließen. Wir dürfen es nicht in andere staatliche Aufgaben oder Sozialsysteme versickern lassen. Wichtig bleibt aber auch: Wer Hilfe von Europa will, muss zunächst seine eigenen Aufgaben erledigen, also sich selbst reformieren. Das heißt: Sozial-, Steuer- und Rentensysteme fit machen für die Zukunft.
Was heißt das?
Weber: Dieser Fonds ist kein Geldautomat, wo sich die Mitgliedstaaten an den Finanzen bedienen und dann damit machen können, was sie wollen. Das darf nicht passieren. Kommission und Parlament müssen da eng zusammenarbeiten.
Welche Konsequenzen wird dies für die globale Position Europas haben?
Weber: Die Gewichte zwischen den großen Blöcken wie China, Indien, der EU und den USA haben sich zu unseren Lasten verschoben. Deshalb muss Europa durchstarten. Ich will klar sagen: Hier geht es nicht nur um Wettbewerb. Wenn wir nicht schnell wieder Fuß fassen, können wir uns auf Dauer unsere Wirtschafts- und Sozialsysteme in der heutigen Ausprägung nicht mehr leisten. Deswegen müssen wir jetzt alles dem Ziel unterordnen, schnell wieder aus der Krise herauszukommen. Die EU hat sich mit dem Green Deal viel vorgenommen. Ich erwarte, dass wir einen Vorbehalt festlegen, um jedes neue Gesetz daraufhin zu prüfen, ob es Arbeitsplätze schafft oder sie vernichtet. Das Prinzip der nächsten Monate muss heißen: Jobs, Jobs, Jobs.
Zu den großen Herausforderungen, vor denen die EU steht, gehört das Verhältnis zu Russland. Sehen Sie irgendeine Chance für einen Dialog?
Weber: Den Fall Nawalny und die Versuche, die bisher größte demokratische Oppositionsbewegung in Russland auszuschalten, werden wir nicht einfach hinnehmen. Die brüske Abfuhr, die Außenminister Sergej Lawrow dem Außenbeauftragten der EU, Josep Borrell, bei dessen Moskau-Besuch erteilt hat, wird ein Wendepunkt sein. Moskau will die ausgestreckte Hand der EU nicht. Darauf sollten wir glaubwürdig reagieren.
Also Sanktionen?
Weber: Ja, jetzt müssen Sanktionen folgen.
Glauben Sie, dass sich Präsident Wladimir Putin von ein paar Einreiseverboten mehr beeindrucken lässt?
Weber: Wer das System Putin treffen will, muss die mit Sanktionen belegen, die davon profitieren. Deshalb sind Maßnahmen gegen Führungspersonen in Moskau ein guter Ansatz. Aber wir sollten da durchaus größer denken, wenn sich der Konflikt weiter verschärfen sollte. Ich halte das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland nicht für unantastbar. Es ist auch nicht im Interesse der EU als Ganzes. Ich will daran erinnern, dass die russische Führung längst Grenzen überschritten hat, wenn ich an die Ermordung von Systemkritikern, die Beeinflussung von Wahlen oder die Cyberangriffe auf Regierungscomputer denke. Das dürfen wir uns nicht länger gefallen lassen.
Zur Person: Manfred Weber, 48, ist seit 2014 Vorsitzender der christdemokratischen EVP-Fraktion im EU-Parlament. Er ging als Spitzenkandidat erfolgreich aus der Europawahl 2019 hervor, konnte aber ohne Mehrheit bei den Staats- und Regierungschefs nicht neuer Kommissionspräsident werden. Weber ist auch Stellvertretender Vorsitzender der CSU.
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