Frau Nguyen-Kim, erinnern Sie sich noch an "Die Knoff-Hoff-Show" im ZDF, die von 1986 bis 1999 lief?
Mai Thi Nguyen-Kim: Ich weiß gar nicht mehr, ob ich sie als Kind geguckt habe. Später habe ich mir Szenen angeschaut...
...in denen Joachim Bublath bestimmt physikalische oder chemische Experimente vorführte und es dabei so richtig krachen und rauchen ließ.
Nguyen-Kim: Das Witzige ist: Als ich zum Youtube-Format "Terra X Lesch & Co" kam, habe ich festgestellt, dass das im alten "Knoff-Hoff"-Keller in Unterföhring bei München entsteht. In dem Keller wurden die "Knoff-Hoff"-Experimente, die dann in der Show gezeigt wurden, ausprobiert.
War das die gute alte Zeit der Wissenschaftsvermittlung im Fernsehen?
Nguyen-Kim: Es war eine gute, aber eben die alte Zeit. Ich finde es schon auch super, wenn es kracht und zischt und explodiert. Zu meinen Studienzeiten an der Uni Mainz gab es eine spektakuläre Weihnachtsvorlesung, bei der der Hörsaal fast in die Luft geflogen wäre. So cool ich das finde, so problematisch ist eine derartige Darstellung von Wissenschaft im Fernsehen.
Warum?
Nguyen-Kim: Weil es überhaupt nichts mit dem echten Leben zu tun hat. Ich bin ja Chemikerin, und ich versuche den Leuten zu vermitteln: Chemie ist alles – wenn du morgens Kaffee trinkst, wenn du dir Creme ins Gesicht schmierst, wenn du atmest. Es lohnt sich, sich mit Chemie auszukennen, weil du dann informierte, bessere Entscheidungen über dein Leben treffen kannst.
Wie wollen Sie heute Wissenschaft vermitteln?
Nguyen-Kim: Ich bin davon überzeugt, dass Wissenschaft total massentauglich ist – und sie bei ganz vielen ankommt, wenn man sie nur entsprechend vermittelt. Deshalb liebe ich auch aktuelle gesellschaftlich-relevante Themen, bei denen es politisch knallt, besonders und äußere mich dazu – nicht weil ich zündeln will, sondern weil ich zu einer Versachlichung beitragen möchte.
Ihr Vater ist Chemiker, Sie sind Chemikerin und Ihr Mann ist ebenfalls Chemiker. Gibt es eine typische Eigenart von Chemikern?
Nguyen-Kim: Man wird es kaum glauben: Wir Chemiker sind völlig normale Menschen – entgegen aller Klischees. Wir haben Hobbys, wir haben Freunde, wir haben auch normale Klamotten an.
Also Journalisten sind ja die, die auf einer Party mit allen sofort ins Gespräch kommen – von denen aber niemand hinterher sagen könnte, was genau sie beruflich tun. Journalisten sind dank ihres vermeintlich schillernden Berufs die Nerds, die Sonderlinge auf der Party... Ist zumindest mein Eindruck.
Nguyen-Kim: Das haben dann Chemiker und Journalisten gemeinsam!
Ich komme darauf, weil es Fotos von Ihnen gibt, auf denen Sie ein T-Shirt mit der Aufschrift "Nerd" tragen.
Nguyen-Kim: Naturwissenschaftler gelten grundsätzlich als Nerds, wobei die Physiker die stillen und die Chemiker die extrovertierten Nerds sind. Die Wirklichkeit ist natürlich vielschichtiger – und ich spiele auf Klischees an, um sie zu brechen. Woran etwas dran sein könnte, ist, dass Naturwissenschaftler tatsächlich weniger Wert auf Äußerlichkeiten legen. Was irgendwie einleuchtet, wenn man sich mit Molekülen, Quantenmechanik oder Astrophysik beschäftigt. Der Fokus ist dann einfach etwas anders.
Mai Thi Nguyen-Kim: "Ich wollte die Welt verbessern"
In Ihrem Buch "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit" schreiben Sie: Ihr Vater habe nicht begreifen können, "wie 'über Wissenschaft reden' ein echter Beruf sein sollte". Inzwischen sind Sie eine der bekanntesten Wissenschaftsjournalistinnen des Landes.
Nguyen-Kim: Und meine Eltern sind sehr stolz auf mich. In letzter Zeit machen sie sich eher Sorgen, dass mir alles zu viel werden könnte. "Du hast doch jetzt genug Abonnenten auf Youtube", sagen sie.
Ihr Youtube-Kanal "maiLab", in dem Sie sich mit Glutamat oder dem Impfen beschäftigen, hat fast 1,3 Millionen Abonnenten. Ihr Video "Corona geht gerade erst los", das Sie am 1. April 2020 aufnahmen, kommt auf bislang 6,5 Millionen Aufrufe.
Nguyen-Kim: Es ging alles so schnell bei mir.
Ihrem Vater jedenfalls erklärten Sie Ihren Wunsch, beruflich Youtube-Videos produzieren zu wollen, mit einer Frage: Ob er Ranga Yogeshwar, den Wissenschaftsjournalisten, kenne?
Nguyen-Kim: Den kannte er und fand ihn gut. Es war so: Während meiner Doktorarbeit habe ich bei einer Veranstaltung mitgemacht, bei der ich meine Forschung in drei Minuten erklärte. Das ist einem WDR-Redakteur aufgefallen, der mich zu einer Aufzeichnung des Wissensmagazins "Quarks" einlud, das Ranga Yogeshwar moderierte. Ich sagte im Studio zu ihm: "Hallo Herr Yogeshwar, ich heiße Mai Thi Nguyen-Kim und habe auch einen komplizierten Nachnamen. Meinen Sie, ich kann auch mal so was machen wie Sie?" Später wurde ich zu einem Casting für "Quarks" eingeladen. Da hatte ich schon meinen Youtube-Kanal. Was ich nicht wusste, war, dass Ranga nach 25 Jahren die Moderation abgeben wollte. 2018 wurde ich "Quarks"-Moderatorin.
Und tauschten das Labor mit dem Fernsehen.
Nguyen-Kim: Mein Antrieb für beides war ähnlich: Ich wollte die Welt verbessern. Ich forschte zum Beispiel an Materialien, auf denen man Zellen züchten kann – um vielleicht künstliches Gewebe herzustellen. Ich wollte zu Lösungen beitragen, und gerade kann ich das ganz gut mit meinen Medien-Formaten, glaube ich. Forschung muss aus dem Labor herauskommen, damit sie bei den Leuten ankommt und von ihnen angenommen wird. Als einzelne Person kann ich mit meinen Medien-Aktivitäten mehr bewegen, finde ich. Forschung ist sehr langwierig, mir fehlt dafür die Geduld.
In Ihrem Buch erklären Sie, wie Wissenschaftler arbeiten und vermitteln Grundlagen-Wissen, etwa zum Impfen. An einigen Stellen schreiben Sie Sätze wie: "Vielleicht können wir uns ja darauf einigen." Ist das in diesen Pandemiezeiten und einer zunehmend polarisierten Gesellschaft überhaupt noch möglich – sich auf etwas einigen zu können?
Nguyen-Kim: Ich glaube fest daran, dass meine Arbeit Sinn hat und dass Versachlichung funktioniert. Das Schlimme ist, dass wir medial eigentlich nur diejenigen wahrnehmen, die am lautesten schreien. Wer möglichst laut herumblökt, wird belohnt, indem er die meiste Aufmerksamkeit bekommt. Dabei handelt es sich um einen kleinen Teil der Gesellschaft. Doch der kann Menschen beeinflussen, das kann zu einer Spaltung führen. Medienschaffende haben also eine große Verantwortung. Aber auch alle anderen sind verantwortlich dafür, was sie im Netz anklicken oder twittern.
Sie hätte sich gewünscht, Jan Josef Liefers hätte sich vorher mehr Gedanken über #allesdichtmachen gemacht
Wie fanden Sie die Aktion #allesdichtmachen, mit der prominente Schauspielerinnen und Schauspieler nach eigener Aussage in satirisch gemeinten Videos eine Debatte über Corona-Maßnahmen anstoßen wollten?
Nguyen-Kim: Daran war ja auch Jan Josef Liefers beteiligt, und der wird jetzt in jede Sendung eingeladen. Nicht, weil er mit seinem Beitrag einen Nerv getroffen hätte, sondern wegen der Empörung, die er auslöste. Unsere Aufmerksamkeit ist begrenzt – und ich frage mich: Warum verbringen wir so viel Zeit mit unnötigen Streitigkeiten? #allesdichtmachen hat uns in der Sache nicht weitergebracht, sondern nur mal wieder eine Empörung beschert.
Jan Josef Liefers hielt Medien mit Blick auf die Berichterstattung über die Pandemie und ihre Folgen unter anderem Alarmismus vor. Er spiele damit den "Querdenkern" oder Rechtspopulisten in die Hände, lautete die Kritik an ihm.
Nguyen-Kim: Er darf sein Meinung über Medien selbstverständlich äußern. Auch wenn ich das, was er sagte, faktisch für falsch halte. Er hat zudem eine Verantwortung als Prominenter, und die Reaktionen waren doch vorhersehbar. Ich hätte mir gewünscht, er hätte sich vorher mehr Gedanken gemacht, vor allem zum Zeitpunkt seines Beitrags. Wir sind alle pandemiemüde, die Situation ist aufgeheizt und es wird noch mehrere Monate dauern, bis die meisten vollständig geimpft sind – zu so einem Zeitpunkt ist es wichtig, dass wir zusammenhalten. Jeder von uns sollte sich in dieser absoluten Ausnahmesituation mal zurücknehmen können. Jede Art von Empörung und Spaltung schadet der Pandemiebekämpfung. Denn das kostet Zeit – und Zeit ist alles in dieser Pandemie.
Die Welt titelte unter einem Screenshot des Liefers-Videos: "Dürfen die das?" Ein "Unkrautargument"?
Nguyen-Kim: So nenne ich Argumente, die eine Diskussion überwuchern. Ja, das ist Unkraut, klar dürfen die das. Genauso darf ich die Aktion kritisieren – und manche Kritik an der Aktion. Es gab Forderungen, die Schauspielerinnen und Schauspieler sollten deswegen ihren Job verlieren. So ein Quatsch! Ich empfand diese Überschrift als Beleidigung von Menschen, die in Ländern leben, in denen es keine Meinungs- und Pressefreiheit gibt.
Sie ärgern sich sichtlich.
Nguyen-Kim: Was mich besonders ärgert, sind die "Querdenker": Das sind diejenigen, die immer von unterdrückter Meinungsfreiheit reden – und gleichsam Journalisten angreifen. Die meisten Morddrohungen gegenüber Journalisten und anderen öffentlichen Personen kommen aus den Ecken, in denen von unterdrückter Meinungsfreiheit gefaselt wird. Das ist verlogen. Man sollte sich auch mal fragen, um wessen Meinungsfreiheit es hier geht: Wenn SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach bedroht oder sein Auto beschmiert wird, fragt keiner von denen: "Dürfen die das?"
Heftige Reaktionen gibt es immer wieder auch beim Thema Impfen.
Nguyen-Kim: Mich zum Beispiel hat manches bei der Impfstoffverteilung gestört. Aber es ist doch unglaublich toll, wie schnell und dennoch zuverlässig die Zulassungsprozesse für die Impfstoffe liefen.
Was sagen Sie Impfskeptikern?
Nguyen-Kim: Zunächst: Ich bin total gegen eine Corona-Impfpflicht und bin froh, dass wir keine haben. Weil ich davon überzeugt bin, dass mündige Bürger gut informiert die rationale Entscheidung selbst treffen werden, sich impfen zu lassen. Ich rate allen: Haltet euch an die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission, denen könnt ihr vertrauen!
Bei den Empfehlungen, wer mit AstraZeneca geimpft werden sollte, gab es ein verwirrendes Hin und Her.
Nguyen-Kim: Das Hin und Her war aber ein gutes Zeichen – dafür, dass man auf neue wissenschaftliche Informationen reagiert. Tendenziell finde ich es auch gut, dass Deutschland vorsichtig vorgeht.
Und wann haben wir die Pandemie endlich überstanden?
Nguyen-Kim: Nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es kann immer wieder Ausbrüche und neue Virus-Mutanten geben. Ich glaube, die Pandemie wird allmählich auslaufen. Wir müssen vor allem die nächsten Monate noch überstehen.
Im vergangenen Jahr wurden Virologen zu Medienstars, teilweise hatten sie eine politische Agenda...
Nguyen-Kim: ...ich kann dazu nur eins sagen: Die Wissenschaft kann es sich nicht mehr erlauben, nicht Stellung zu beziehen. Es ist ein Trugschluss zu denken: Wissenschaft ist frei von Politik und Ideologie. Das ist sie vielleicht in der Theorie. In der Praxis wird sie politisiert. Wenn man sich als Wissenschaftler hier heraushält, lässt man zu, dass Wissenschaft missbraucht wird.
Zur Person: Mai Thi Nguyen-Kim, 33, wurde im hessischen Heppenheim geboren. Sie ist promovierte Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin. Für ihren Youtube-Kanal "maiLab" wurde sie unter anderem mit dem Grimme Online Award 2018 ausgezeichnet. Neben weiteren Journalistenpreisen erhielt sie 2020 das Bundesverdienstkreuz. Sie ist verheiratet und seit 2020 Mutter einer Tochter. Ihr Buch "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit. Wahr, falsch, plausibel – die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft" (Droemer Hardcover, 368 Seiten, 20 Euro) ist ein Bestseller.
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