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Interview: Libanon-Helferin: "Menschen in den Camps macht der Winter Angst"

Interview

Libanon-Helferin: "Menschen in den Camps macht der Winter Angst"

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    Jacqueline Flory (zweite von rechts) ist Vorsitzende des Vereins „Zeltschule“. Sie reist regelmäßig in den Libanon.
    Jacqueline Flory (zweite von rechts) ist Vorsitzende des Vereins „Zeltschule“. Sie reist regelmäßig in den Libanon. Foto: Privat

    Frau Flory, aus dem Libanon hören wir viele beunruhigende Nachrichten: Regierungskrise, Wirtschaftskrise, die verheerende Explosion in der Hauptstadt Beirut. Dazu kommen Corona und der nahende Winter. Was wissen Sie über die aktuelle Lage in den Flüchtlingscamps, wo sich Ihr Verein um Bildung für Kindern kümmert?

    Jacqueline Flory: Die Lage ist sehr ernst. All das, was Sie aufgezählt haben, beeinflusst ganz direkt unsere Arbeit. Grundlegende Dinge wie Nahrungsmittel und Hygieneartikel, sind viel schwieriger zu bekommen. Der Libanon hat bisher 80 Prozent der Waren importiert. Und seit der Explosion ist der Hafen blockiert – vieles gibt es nicht mehr, die Inflation liegt bei 500 Prozent. Den Menschen in den Camps macht der nahende Winter Angst. Sie wissen, dass Brennholz viel teurer ist als im vergangenen Jahr und es schwierig ist, alle beheizbaren Zelte zu versorgen. Außerdem gibt es immer wieder Lockdowns, sobald jemand eine Erkältung hat. Dazu kommen die sich zuspitzenden politischen Konflikte im Land. Die Geflüchteten haben Angst vor einem Bürgerkrieg – also den Zuständen, vor denen sie aus ihrer Heimat geflohen sind.

    Sind die Camps im Lockdown komplett abgeriegelt?

    Flory: Ja, auch die Hilfsorganisationen dürfen nicht mehr rein. Und der Lockdown gilt fürs ganze Camp. Die Lehrer müssen dann Homeschooling machen: Sie gehen von Zelt zu Zelt und verteilen Aufgaben, die sie abends wieder abholen.

    Sie unterhalten 15 Schulen in libanesischen Flüchtlingscamps. Wie halten Sie während des Lockdowns Kontakt?

    Flory: Unsere Lehrer – es sind insgesamt 27 – leben ja alle in den Camps. Wir tauschen uns jeden Freitag in einer Lehrerkonferenz per Whatsapp über die anstehenden Dinge aus. Das funktioniert recht gut.

    Abstand halten scheint zwischen beengt aufgestellten Zelten kaum möglich. Wie gehen die Menschen mit der Ansteckungsgefahr um?

    Flory: Am Anfang herrschte eine große Angst. Ich habe mich an die großen internationalen Organisationen gewandt mit der Bitte um Tests und Isolationszelte. Es kam keine Antwort. Darum haben wir selbst Zelte aufgestellt und Leute mit starken Symptomen isoliert, um Ansteckungen zu verhindern. Die Ansteckungsgefahr von außen ist gering. Die Flüchtlinge sind ja illegal im Land, sie leben abgeschirmt.

    Was ist bekannt über die Verbreitung des Coronavirus im Libanon und in den Lagern?

    Flory: Niemand weiß über Corona-Zahlen Bescheid. Im ganzen Land wird so gut wie nicht getestet. Der Libanon hat kein funktionierendes Gesundheitssystem mehr. Lockdowns sind vor allem politisch motiviert. Der erste Lockdown kam drei Tage nach der Explosion im Hafen – als durchsickerte, dass die Regierung von der Situation im Lager gewusst hat und trotz der Explosionsgefahr Feuerwehrleute in die brennende Halle schickte. Da war klar, die Leute gehen auf die Straße.

    Aktuell hat der Libanon keine funktionierende Regierung. Erschwert das Ihre Arbeit dort?

    Flory: Für uns ist das weniger dramatisch, weil wir noch nie mit der libanesischen Regierung zusammengearbeitet haben. Aus gutem Grund: Wir wissen, wie korrupt die Leute sind. Die Regierungskrise trifft andere, größere Organisationen härter, denn der Staatsbankrott hat dazu geführt, dass noch mehr Hilfsmittel in dunkle Kanäle geflossen sind.

    Wie wirken sich die zunehmenden Probleme auf die Haltung der Libanesen gegenüber den Geflüchteten aus?

    Flory: Unterschiedlich. Unter den jungen Menschen, die für eine neue politische Ordnung auf die Straße gehen, sind viele, die auch mehr Rechte und eine medizinische Versorgung für die Flüchtlinge einfordern. Aber es gibt eben auch viele Libanesen, die nicht wissen, wie sie die Miete bezahlen und die Familie durchbringen sollen. Die sagen: Wie sollen wir denn noch Flüchtlingen helfen? Es herrscht ein Gefühl von Haltlosigkeit. Dass man sich auf niemanden verlassen kann, dass sich das Land im freien Fall befindet. Die Furcht und Resignation der Menschen hat nichts mit den Flüchtlingen zu tun. Es wollen immer mehr Libanesen das Land verlassen.

    Vor zwei Jahren haben Sie in einem Camp Bar Elias in der Bekaa-Ebene mithilfe der westallgäuer Gemeinde Gestratz die Zeltschule Allgäu errichtet; sie ist Partnerschule der Gestratzer Grundschule. Wie hat sich diese Schule entwickelt?

    Flory: Sie hat sich sehr gut entwickelt. In diesem Camp leben 1400 Menschen, 189 Kinder besuchen die Schule. Kürzlich haben wir den dritten Alphabetisierungskurs für Frauen gestartet, das heißt, 25 weitere Frauen lernen lesen und schreiben.

    Wie organisiert Ihr Verein die Zeltschulen und die weiteren Initiativen in den Flüchtlingscamps?

    Flory: Auf der deutschen Seite sind wir zu dritt, die das hauptberuflich machen. Auf der libanesischen haben wir bewusst keine Büros und Angestellten, weil das eine Registrierung erfordern würde. Dort leisten die Geflüchteten selbst die ganze Arbeit: Sie bauen Schulen, reinigen sie, unterrichten. Die Menschen sind wahnsinnig froh, wenn sie eine sinnvolle Aufgabe bekommen.

    Zur Person Jacqueline Flory ist Vorsitzende des Vereins „Zeltschule“. Sie reist mit ihren beiden Kindern regelmäßig in den Libanon. Der Verein hat 110 Mitglieder und unterhält 15 Schulen in Camps im Libanon und 15 Schulen in Syrien.

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