Weihnachten mit Ausgangssperren, ein harter Lockdown mit geschlossenen Geschäften in der Haupteinkaufssaison: Genau das wollte die Politik mit dem Teillockdown verhindern. Warum hat es nicht funktioniert?
Karl Lauterbach:Wir haben in den vergangenen Wochen weitgehend die Kontrolle über die Pandemiesituation verloren. Ohne den harten Lockdown wäre die Lage nicht mehr beherrschbar geworden. Der Wellenbrecher-Shutdown im November wäre dann erfolgreich gewesen, wenn es gelungen wäre, die Zahl der Kontakte unter den Menschen um 75 Prozent im Vergleich zu normalen Zeiten zu reduzieren. Es war allerdings unter Wissenschaftler sehr umstritten, ob man dieses Ziel erreichen kann, wenn man gleichzeitig Schulen, Betriebe und die Geschäfte offenlässt. Am Ende haben die Kritiker leider Recht behalten. Laut Hochrechnungen aus anonymisierten Bewegungsdaten von Mobilfunkanbietern hatten sich im November die Kontakte nur um gut 40 Prozent reduziert. Das hat leider vorn und hinten nicht ausgereicht. Um die Zahlen endlich wieder nach unten zu bekommen, brauchen wir den harten Lockdown. Ich hielte es für unverantwortbar und unethisch, wenn wir anfangen, uns an tausend Todesfälle am Tag zu gewöhnen.
Die Infektionszahlen sind in den vergangenen Tagen auf Rekordhöhe nach oben geschossen. Haben wird das Infektionsrisiko in Geschäften und Innenräumen unterschätzt?
Lauterbach: Neuere Studien zeigen leider relativ klar, dass auch Supermärkte und Geschäfte zu den Risikobereichen insbesondere im Lockdown und kurz vor dem Lockdown sind. Das erklärt auch weshalb wir während des Lockdowns, als die Gastronomie und die Cafés schon zu waren, noch relativ viele neue Fälle beobachten mussten. Ältere Menschen ist daher beim Einkaufen dringend zum Tragen einer FFP-2-Maske zu raten.
Sie hatten bereits im Juli die zweite Welle für den Herbst vorausgesagt, weil dies typisch für Pandemien dieser Größenordnung sei. Waren Sie aber überrascht, mit welcher Wucht das Virus zurückgekehrt ist?
Lauterbach: Nein, leider hatte ich das genau so befürchtet. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn es anders gekommen wäre. Aber ich hatte sogar damit gerechnet, dass es noch früher losgeht.
Viele haben die zweite Welle unterschätzt. Nun richten sich die Hoffnungen, darauf, dass mit den Massenimpfungen 2021 alles vorbei ist. Ist das so? Oder unterschätzen wir das Virus möglicherweise erneut?
Lauterbach: Nein, wir werden keinen zweiten Corona-Herbst erleben, wenn die Impfungen erst einmal begonnen haben und im zweiten Halbjahr genügend Impfstoff für die breite Bevölkerung zur Verfügung steht. Die Lage wird sich ab Sommer erheblich entspannen. Doch wir dürfen nicht unterschätzen, dass für uns jetzt erst die drei härtesten Monate der gesamten Pandemie begonnen haben. Wir können froh sein, dass es überhaupt schon einen Impfstoff gibt. Aber wir brauchen die nötigen Impfstoffmengen. Bislang haben erst Biontech und Moderna die EU-Zulassung beantragt. Ich rechne damit, dass im Sommer weitere Impfstoffe zugelassen sind.
Es gibt Kritik daran, dass in den kommenden Monaten zu wenig von dem modernen mRNA-Impfstoff zur Verfügung steht, obwohl Biontech und Moderna offenbar der EU größere Lieferungen angeboten haben. Die EU hat allem auf herkömmliche Impfstoffe gesetzt, etwa von AstraZeneca, die wohl viel später zur Verfügung stehen. Soll Deutschland selber versuchen, größere Mengen nachzuordern?
Lauterbach: Nach hinten zu blicken bringt nichts. Aber trotzdem sollte so schnell wie möglich von Biontech und von Moderna nachgekauft werden. Denn, ob die anderen Impfstoffe so gut sein werden wie diese beiden, ist unklar. Daher sollte zur Not jeder in Deutschland mit diesen beiden Impfstoffen geimpft werden können.
Verhindern die Impfstoffe eine Ansteckungsgefahr für andere oder schützen sie nur die Geimpften?
Lauterbach: Man kann bei den Impfstoffen von Biontech und Moderna momentan leider nur spekulieren, ob sie auch vor Ansteckungen anderer schützen. Grundsätzlich gibt es drei Impfziele: Schutz vor einer schweren Corona-Erkrankung; dass man sich nicht selbst ansteckt - und dass man selbst nicht andere ansteckt. Bislang können wir anhand der vorliegenden Studien nur sagen, dass das erste Impfziel erreicht wird, dass geimpfte Menschen nicht schwer erkranken. Ob sie sich nicht dennoch anstecken oder andere anstecken können, darüber wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt zu wenig. Das wird sich erst in der Praxis zeigen. Das war auch nicht Teil des Zulassungsverfahrens.
Schützt die Impfung ebenso gut wie eine durchgemachte Infektion?
Lauterbach: Auf Grundlage der Antikörperreaktion sind die Impfstoffe von Biontech und Moderna wirksamer als ein leichter Krankheitsverlauf. Ob das in der Praxis auch so ist, lässt sich erst an der längerfristigen Antwort des Immunsystems auf die Impfung ablesen.
Sie sind als Warner und Erklärer in der Krise zu einer Hauptfigur in den Medien geworden. Wie erleben Sie als Politiker und Epidemiologe die öffentliche Debatte über die Pandemie?
Lauterbach: Ich bewege mich in den Medien seit über zwanzig Jahren, deshalb war es für mich eher mehr vom Gleichen als etwas grundsätzlich Neues. Ich habe die Diskussion über das Virus in Deutschland als qualitativ sehr hochwertig erlebt. Durch die vielen Talkshows, Sondersendungen und in den Qualitätszeitungen haben wir meist eine hervorragende Berichterstattung. Das hat uns sicher geholfen, die Pandemie in der ersten Welle so gut zu bewältigen.
Fühlen Sie sich wohl als Dauergast in Talkshows?
Lauterbach: Die Kommunikation über Erkenntnisse gehört zur Arbeit eines Epidemiologen ebenso wie zu der eines Gesundheitspolitikers. Ich habe das von Anfang an sehr stark über die Sozialen Medien betrieben und dann über viele Talkshowauftritte, Interviews und Hintergrundgespräche. Aber ich bin nur Teil eines Netzwerks von sich ergänzenden Virologen, Epidemiologen und Gesundheitswissenschaftlern, die versuchen, das pandemische Geschehen zu interpretieren. Und dazu gehört auch Öffentlichkeitsarbeit. Die Bevölkerung hat das Recht, das alles, was man über die Pandemie weiß und was nicht, so transparent wie möglich dargestellt wird.
Da Sie Wissenschaftler und Politiker in einer Person sind, polarisieren Sie viele Menschen. Manche stellen Sie als Kassandra oder negativen Dauerwarner dar. Macht Ihnen das etwas aus?
Das ist meist eine Polemik von Menschen, die eine andere Art der Bewältigung der Pandemie wollen. Das kommt vor allem aus populistischen Kreisen, um mich zu diffamieren. Man versucht mich als jemand abzustempeln, der dauerwarnt, in der Hoffnung, dass man mir nicht mehr zuhört. Aber mir geht es immer darum, konstruktive Vorschläge zu machen. Und ich war auch immer und bin ein Optimist, was die Corona-Impfungen angeht.
Ärgert es Sie, dass Ihnen auch in eigenen Reihen schon früher ein bisschen das Etikett einer Nervensäge umgehängt wurde?
Lauterbach: Das bestreite ich. Mir werden ja viele Dinge vorgeworfen, aber auch vor meiner Zeit als stellvertretender Fraktionsvorsitzender habe ich das Wort Nervensäge in meinem langen politischen Leben in meiner Partei noch nie gehört. Im Rahmen einer Pandemie muss man sehr stark warnen und Vorschläge machen. Und da muss man eben damit leben, dass man auf polemische Widersacher stößt. Das gehört einfach dazu.
Ihren Humor scheinen Sie dabei nicht verloren zu haben. In der satirischen „Heute Show“ nehmen Sie mit Gastauftritten sich und Ihre Rolle als Spaßverderber auf die Schippe...
Lauterbach: Ich will damit zwar nicht meine Arbeit auf die Schippe nehmen, aber es wäre ein dramatischer Verlust an Lebensqualität, wenn man seinen Humor verlieren würde. Und auch in einer Pandemie hilft Humorlosigkeit nicht weiter. Ohne Selbstironie oder Sarkasmus an der einen oder anderen Stelle übersteht man das nicht. Ich persönlich schätze die „Heute Show“ oder auch Jan Böhmermann sehr. Das sind großartige Formate. Und wenn der Wunsch besteht, trete ich da sehr gerne auf.
Derzeit wird viel über Sie geschrieben. Man beißt sich gerne daran fest, dass Sie kein Salz essen. Brauchen Sie dickes Fell, wenn Sie all das lesen?
Lauterbach: Ich bin froh, dass ich seit dreißig Jahren kein Salz esse. Besonders amüsiert mich, wenn ich in Porträts über mich immer wieder lese, dass ich nicht das Standardgewicht des einen oder anderen Minister hätte. Aber ich denke, dass ich das Amt des Gesundheitsministers durchaus auch mit meinem Gewicht hätte ausfüllen können. Ich bin eigentlich sehr dankbar, dass ich nicht viel schwerer bin. Ich betreibe viel Sport, das möchte ich nicht missen.
Wie sehr bedauern Sie es, dass Ihnen das Amt des Gesundheitsministers in allen Regierungen mit SPD-Beteiligung verwehrt blieb?
Lauterbach: Mir ist es als Gesundheitspolitiker gelungen, sehr viele Gesetze durchzubringen. Ich war in den vergangenen 20 Jahren an über 80 Gesetzen beteiligt. Vermutlich hatte ich damit mehr Einfluss, als wenn ich für eine kurze Zeit Bundesgesundheitsminister geworden wäre. Also: Ich kann mich nicht beklagen, das ist bislang ganz gut gelaufen.
Und was hat es mit Ihrem Salzverzicht auf sich?
Lauterbach: Wir haben in Deutschland seit jeher einen überhöhten Salzkonsum. Auf Dauer beschädigt das die Gefäße, weil es ihre Alterung beschleunigt. Wer jahrzehntelang die bei uns üblichen Mengen Salz zu sich nimmt, kann fast unmöglich Bluthochdruck vermeiden. Fast alle über 80 Jahre alten Deutschen leiden unter Bluthochdruck. Viele haben es bei einem normalen Salzkonsum schon ab Sechzig oder Siebzig mit Vorhofflimmern, der häufigsten Form von Herzrhythmusstörungen, zu tun. Als Epidemiologe könnte ich Ihnen noch zehn weitere Erkrankungen aufzählen. Deshalb werbe ich offen für weniger Salzkonsum. Bei Epidemiologen, die Vorbeugemedizin betreiben, ist es deshalb nicht so selten, dass sie selbst sehr wenig Salz zu sich nehmen.
Ist das nicht im Alltag sehr schwierig für Sie? Zum Beispiel gilt in Deutschland fast jedes Brot theoretisch als übersalzen...
Lauterbach: Brot- und Käseverzicht sind tatsächlich oft Opfer für mich. Wenige Brote sind salzlos. Ich habe viele Jahre lang mein Brot selbst gebacken. Inzwischen entstehen aber Gott sei Dank immer mehr Handwerksbäckereien, die sich auch auf besondere Wünsche ausrichten.
Sie haben 2019 Ihr einflussreiches Amt als stellvertretender Fraktionschef abgegeben, um an der Seite der Umweltpolitikerin Nina Scheer für das Amt des SPD-Vorsitzenden zu kandidieren. Sind im Nachhinein froh, dass Sie die Mitglieder von dieser Bürde verschont haben?
Lauterbach: Ich wäre mit Nina Scheer zusammen gerne Parteivorsitzender geworden. Wir hatten die Position, dass die SPD erst dann wieder so große Zustimmung wie früher finden kann, wenn sie deutlich stärker als ökologische Partei wahrgenommen wird. Der Klimaschutz wird von jungen Menschen völlig zu Recht als vorherrschendes Problem der nächsten Jahrzehnte angesehen, wichtiger als manche Frage der sozialen Gerechtigkeit in unserem Land. Da ist die SPD noch nicht ausreichend vorbereitet, das war der Grund warum ich damals kandidiert habe. Aber das jetzige Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans macht eine sehr gute Arbeit und ich halte Olaf Scholz für den besten Kanzlerkandidaten für Deutschland. Ich bin mit meiner Niederlage von 2019 versöhnt, aber ich hätte gerne gewonnen.
Was raten Sie den Menschen jetzt über Weihnachten und für Januar über die Einhaltung bekannten Corona-Hygieneregeln hinaus?
Lauterbach: Ich rate allen dazu, so wenige Reisen und Besuche zu machen wie irgend möglich. Lieber telefonieren und aufschieben. Darüber hinaus würde ich auch bei den Familientreffen wenn immer möglich Maske tragen und viel lüften. Unnötige Reisen wie Kurzurlaubsreisen sind unbedingt zu vermeiden.
Zur Person: Karl Lauterbach Der 57-jährige SPD-Politiker ist Arzt, Gesundheitsökonom, Epidememiologe und Professor an der Uniklinik Köln. Von 2013 bis 2019 war er stellvertretender SPD-Fraktionschef.
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