Herr Lauterbach, die Ständige Impfkommission empfiehlt, den Impfstoff von AstraZeneca nicht für Menschen über 65 Jahre einzusetzen, weil die Studienerkenntnisse für die Altersgruppe zu dünn sind. Was bedeutet diese Entscheidung?
Karl Lauterbach: Diese Entscheidung verändert natürlich unsere Möglichkeiten zum Impfen. Die ersten zwei Risikogruppen bestehen hauptsächlich aus über 70-Jährigen. So bleibt der Impfstoff im Wesentlichen nur übrig für diejenigen, die in den Gruppen eins, zwei und drei jünger als 65 sind. Dabei geht es um Menschen mit besonders gefährdeten Berufen, dazu zählt vor allem das medizinische Personal, Betreuer und die Polizei. Aber auch die Bundestagsabgeordneten und die Regierungsmitglieder zählen zur dritten Impfgruppe. Ich selbst auch. Für diese Gruppen reicht der Astra-Impfstoff ohne Einschränkungen aus, es muss nicht der für Ältere besser geeignete Impfstoff genutzt werden.
Ist das ein Rückschlag für die Impfstrategie?
Lauterbach: Was die Zahl der zu vermeidenden Todesfälle angeht, bedeutet das natürlich einen Rückschlag, weil Menschen über 65 bei einer Corona-Erkrankung am meisten gefährdet sind, langsamer geimpft werden können. Es wird deshalb sehr davon abhängen, wie gut es uns gelingt, in den nächsten Wochen den Lockdown fortzuführen, auch um gerade diese Menschen zu schützen.
Verschärft die Entscheidung die Probleme, dass offensichtlich zu wenig Impfstoffe frühzeitig bestellt wurden?
Lauterbach: Das Problem war von Anfang an: Die EU hat mit relativ wenig Geld zu spät die Verträge abgeschlossen. Die amerikanischen Verträge sind sehr viel früher geschlossen worden. Mit AstraZeneca schlossen die USA bereits im Mai den Vertrag ab, die EU erst im August. Bei Biontech war es in Amerika im Juli und in Europa erst im November. Bei Moderna war es in Amerika ebenfalls Juli, in der EU erst im Dezember. Da liegen jeweils mehrere Monate dazwischen. Und die amerikanischen Verträge haben immer vorgesehen, dass man von den einzelnen dieser Impfstoffe mehrere 100 Millionen Dosen bestellt, die zum Teil vorproduziert werden mussten. Mit dieser Strategie wollte man sicherstellen, dass man die gesamte amerikanische Bevölkerung bis zum Juli 2021 mit jedem dieser Impfstoffe durchimpfen könnte, auch wenn nur ein einziger davon zur Verfügung stehen würde. Das ist in den EU-Verträgen offensichtlich nicht so vereinbart worden. Die genauen Verträge kenne ich nicht. Um ähnlich wie mit der amerikanischen Strategie, mit jedem einzelnen dieser Impfstoffe die Bevölkerung impfen zu können, dafür haben die Europäer schlicht zu wenig Geld in die Hand genommen.
Es heißt, im Nachhinein ist man schlauer…
Lauterbach: Das hört man oft als Vorwurf. Aber man kann nachlesen, dass ich genau das, was jetzt eingetreten ist, bereits im August zur Debatte gestellt habe. Ich habe damals auch sogar öffentlich, nicht nur intern, gesagt, dass wir in den ersten Monaten nur 20 Prozent unserer Bevölkerung impfen können, weil die EU relativ wenig gekauft hat. Nur hat das im August offenbar niemanden interessiert, weil viele dachten, es gebe keine zweite Welle. Sogar manche Virologen bestritten, dass es eine zweite Welle geben würde oder glaubten, dass das Virus nicht mehr so tödlich wäre. Man hat das Problem, dass die EU wenig bestellt hat, vielleicht gar nicht als solches wahrgenommen. Allerdings hatte damals zum Beispiel Christian Dorsten von der Berliner Charité schon im Hochsommer davor gewarnt, dass die zweite Welle wahrscheinlich schwerer werden wird als die erste. Und dass deshalb die Impfungen eine besondere Rolle spielen.
Jetzt soll es einen Impfgipfel geben, und man muss versuchen, die Fehler wieder aufzuholen. Kann man die Produktion der Impfstoffe mit anderen Herstellern beschleunigen?
Lauterbach: Das geht leider nicht so einfach. Die Produktion der modernen mRNA-Impfstoffe ist hoch kompliziert, um das zu beschleunigen, braucht man neue Werke. Da geht es aber um Monate und es kostet hunderte Millionen Euro, neue Kapazitäten zu schaffen. Deshalb geht das nur in Zusammenarbeit mit den Herstellern. Es ist richtig, dass die Unternehmen jetzt die entsprechende Unterstützung bekommen. Der Impfgipfel muss aber auch für Transparenz sorgen, was in den Verträgen steht und wann welche Impfmittel zu erwarten sind. Wir bekämen dann auch endlich eine realistische Einschätzung davon, wen wir wann impfen können.
Ist das Verhältnis zwischen der Politik und den Impfmittelherstellern nicht inzwischen völlig vergiftet?
Lauterbach: Nein. Wir dürfen eines nicht vergessen: Firmen wie Biontech und Moderna und auch AstraZeneca machen eine Superarbeit. Das sind Impfstoffe mit einer Qualität, die die Menschheit so noch nicht gesehen hat. Anders als die klassischen Impfstoffe werden insbesondere die neuen mRNA-Impfstoffe von Biontech und Moderma nicht bei Wiederholungsimpfungen weniger wirksam, weil man immun gegen den sogenannten Vektor wird. Das ist eine so gigantische Leistung, dass dieses Verdienst nicht durch die aktuelle Diskussion getrübt wird. Die EU wirft in dieser Debatte mit Steinen aus dem Glashaus, wenn sie die Unternehmen zu stark kritisiert. Auch der Einkauf war nicht optimal, und jetzt werden die Hersteller angegriffen. Deshalb sollten jetzt am besten die Verträge auf den Tisch.
Bei AstraZeneca sind die Zweifel am größten, dass der Impfstoff vor Ansteckung Dritter schützt. Es ist sicher richtig, das medizinische Personal zu impfen, weil es das höchste Ansteckungsrisiko für sich selbst hat und zahlreiche Pfleger in Deutschland bereits erkrankt und sogar gestorben sind. Aber ein Schutz für die Patienten sollte man sich davon nicht erhoffen, oder?
Lauterbach: Es ist tatsächlich so, und das gilt für alle Impfstoffe, niemand weiß, inwieweit sich auch Geimpfte ohne Symptome infizieren und diese Infektion an andere weitergeben könnten. Deswegen ist sowohl eine Diskussion über Privilegien für Geimpfte oder gar eine Impfpflicht völlig fehl am Platz. Noch dazu hängt die Frage, ob man ausreichend Antikörper hat, möglicherweise auch noch vom Alter, wann und mit welchem Impfstoff man geimpft wurde, ab. Schon deshalb ist die Diskussion über Privilegien für Geimpfte abwegig. Und eine Impfpflicht halte ich ohnehin für völlig falsch.
Wie geht es nun weiter?
Lauterbach: Es gibt noch einen weiteren Impfstoff mit einer wohl sehr starken Wirkung, der noch nicht zugelassen ist und von der Firma Johnson & Johnson entwickelt wurde. Da könnte es bald Klarheit geben, wann er zur Verfügung steht. Die Strategie muss aber jetzt sein, dass wir im Lockdown einen sogenannten R- Wert von 0,7 erreichen – das heißt, dass zehn Infizierte maximal sieben andere anstecken können und dass wir die Maßnahmen so lange fortsetzen, bis wir einen Inzidenzwert von maximal 20 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner pro Woche erreichen.
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