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Interview: Intensivmediziner: „Wir sehen immer jüngere Corona-Patienten“

Interview

Intensivmediziner: „Wir sehen immer jüngere Corona-Patienten“

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    Corona-Patient wird im künstlichen Koma auf Intensivstation beatmet.
    Corona-Patient wird im künstlichen Koma auf Intensivstation beatmet. Foto: Marijan Murat, dpa (Archiv)

    Herr Professor Karagiannidis, wie beurteilen Sie aktuell die Corona-Situation auf deutschen Intensivstationen?

    Christian Karagiannidis: Die Gesamtzahl der Patienten ist noch nicht so hoch. Am vergangenen Sonntag stieg sie über tausend, im Laufe der Woche kamen über zweihundert hinzu. Momentan ist das für die Intensivstationen verkraftbar, da wir jahreszeitlich bedingt etwas weniger andere Erkrankungen haben. Wir sind noch weg von den Spitzenbelastungen vergangener Corona-Wellen. Was uns aber Sorgen macht, ist, dass der Trend steil nach oben geht und die Kliniken uns gleichzeitig weniger betreibbare Intensivbetten zur Beatmung melden. Denn, egal mit welcher Klinik man spricht, das Personal ist nach drei Corona-Wellen müde und ausgepowert. Viele Pflegekräfte reduzieren ihre Arbeitszeit, weil die Arbeitsbelastung extrem hoch ist. Dafür haben wir volles Verständnis, aber das kostet uns viel an Intensivkapazitäten.

    Hat sich seit Ausbruch der Delta-Variante das Bild der Corona-Patienten verändert?

    Karagiannidis: Der Altersdurchschnitt unserer Corona-Patienten auf den Intensivstationen ist deutlich jünger geworden. Weit mehr als die Hälfte der Patienten ist unter 60 Jahre alt, fast ein Drittel ist jünger als 50. An meiner Klinik sehen wir anders als früher viele Patienten im Alter zwischen 20 und 40 auf der Intensivstation. Und wir hören von fast allen Kliniken, dass jetzt Patienten kommen, die keine oder kaum nennenswerte Vorerkrankungen hatten. Deshalb erleben wir mit der Delta-Variante tatsächlich eine neue Phase der Pandemie auf den Intensivstationen.

    Bislang nur wenige Kinder auf Intensivstation mit Corona

    Erfassen Sie mit Ihrem Intensivregister auch die Zahlen für Kinder?

    Karagiannidis: Ja, das machen wir. Stand Mitte der Woche hatten wir drei Kinder auf Intensivstationen, von denen zwei invasiv beatmet wurden. Etwa ein Prozent der Intensivpatienten ist jünger als 18 Jahre. Das sind ein Dutzend Fälle – also insgesamt sehr wenig.

    Die Delta-Variante gilt als deutlich ansteckender und auch gefährlicher für Erwachsene. Macht das einen Teil des Fortschritts, den die Impfungen bescheren, wieder zunichte?

    Karagiannidis: Die Delta-Variante führt nach heutigen Erkenntnissen dazu, dass die Nicht-Geimpften deutlich schneller im Krankenhaus landen als bei früheren Wellen. Bei Geimpften macht die Virusvariante dabei keinen Unterschied: Geimpfte sind beim Risiko, ins Krankenhaus zu müssen, genauso gut geschützt wie bei früheren Varianten. Wenn wir durchgeimpft sind, kommen wir auch gut durch eine Delta-Welle.

    Intensivzahlen folgen weiter den Inzidenzen

    Die Intensivpatientenzahlen steigen dennoch bundesweit stark an, besonders in Ländern wie Nordrhein-Westfalen, wo die Sommerferien vorbei sind. Stolpern wir ein bisschen blauäugig in die vierte Corona-Welle?

    Karagiannidis: Der Anstieg der Intensivpatientenzahlen kommt für uns nicht überraschend. Die Belegung der Intensivstationen mit Covid-Patienten ist weiter klar an die Inzidenzzahlen gekoppelt. Mit steigender Sieben-Tage-Inzidenz steigen auch die Intensivfälle. Der Unterschied zur letzten Herbst-Welle ist, dass damals die Inzidenzzahlen um den Faktor zwei bis drei niedriger waren. Das heißt, wir haben derzeit erst bei einer Inzidenz von 150 ungefähr so viele Intensivpatienten, wie wir sie vergangenes Jahr schon bei einer Inzidenz von 50 bis 75 hatten. Doch wenn man die Kurve der Intensivfälle betrachtet, sind Tempo und Dynamik des Anstiegs fast identisch wie bei der zweiten Welle im vergangenen Herbst. Deshalb sind wir als Intensivmediziner nicht glücklich über die Diskussion, dass die Inzidenzzahlen künftig keine entscheidende Rolle bei den Corona-Maßnahmen mehr spielen sollen.

    Neuer Vorschlag für Inzidenzregel

    Sollte man also doch wieder auf die Inzidenz schauen und sie mit einem Faktor hochrechnen?

    Karagiannidis: Dafür sprechen eigentlich mehrere Gründe. Die Intensivbettenbelegung folgt nach wie vor der Zahl der Neuinfektionen. Die Inzidenzen sind ein Frühwarnwert, weil sie der Entwicklung an den Kliniken zeitlich vorauslaufen. Und wir sehen, in welchen Altersgruppen und Teilen der Bevölkerung das Infektionsgeschehen hoch ist, etwa bei den Ungeimpften. Doch die Inzidenzen haben leider einen schlechten Ruf bekommen. Eine Möglichkeit für die Zukunft wäre, die Inzidenzen für über und unter 35-Jährige getrennt auszuweisen. Bei den Älteren ist die Verbindung zwischen Inzidenzen und Intensivbelegung nach wie vor eng.

    Viele Länder lockern mit der sogenannten 3G-Regel für Geimpfte, Genesene und Getestete die Corona-Einschränkungen stark. Ist das zum Start in die kalte Jahreszeit riskant?

    Karagiannidis: Man kann es auch aus Sicht der Intensivmedizin rechtfertigen, dass man den Geimpften viel mehr Freiheiten gibt. Die Geimpften landen so gut wie nicht auf der Intensivstation. Bei den wenigen Prozent handelt es sich in der Regel um Menschen mit geschwächtem Immunsystem und entsprechenden Vorerkrankungen. Problematisch wird es beim dritten G, den Getesteten. Die Schnelltests sind zu ungenau und unentdeckte Infektionen wirken sich bei der Delta-Variante noch viel riskanter aus als in der Vergangenheit. Jeder unentdeckte Infizierte kann in seinem Umfeld noch viel mehr Menschen anstecken. Deshalb sollte man entweder bei 3G auf PCR-Tests setzen, was jedoch schwierig umsetzbar ist, oder bei Lockerungen über eine 2G-Regelung diskutieren.

    Was passiert, wenn die Corona-Ampel auf Rot schaltet?

    Trauen Sie den Versprechen der Politiker, dass es mit den neuen Corona-Ampel-Lösungen auf keinen Fall einen neuen Lockdown mehr geben wird?

    Karagiannidis: Ich finde die neuen Corona-Ampel-Regeln im Prinzip richtig und sinnvoll. Aber die Politik muss jetzt auch klar sagen, was passiert, wenn die Ampel auf Rot schaltet. Denn eine Corona-Welle hat einen langen Bremsweg. Wir können Grenzwerte nur dann festlegen, wenn wir eine Vorstellung davon haben, was die Bremse sein soll und wie lange der Bremsweg ist, bis die Maßnahmen wirken. Das ist kein sexy Thema für einen Wahlkampf, aber diese Frage ist entscheidend für den Umgang mit der Pandemie im Herbst. Die Politik muss von vornherein deutlich machen, was sie tun will, wenn die Zahlen nach oben gehen. Denn ein Lockdown ist ein unangenehmes Instrument, aber er wirkt dafür relativ einfach, um die Zahlen nach unten zu bringen. Die Frage ist, ob das mit 3G oder 2G auch geht. Diese Antwort muss die Politik liefern.

    Wäre 2G gleich der bessere Weg, um es gar nicht so weit kommen zu lassen?

    Karagiannidis: Es ist gut, dass Hamburg dies ausprobiert und wir dann Daten bekommen, was es bewirkt. Tatsächlich wäre es sinnvoll, eher früher als zu spät auf 2G zu setzen, damit wir nicht mit einem riesigen Rucksack an Infektionen in den Oktober und November marschieren.

    Sie haben bei den vergangenen Wellen erschreckend genaue Prognosen über die Belegung der Intensivstationen geliefert. Geht das auch mit Blick auf die Impfungen und die Delta-Variante?

    Karagiannidis: Im Moment können wir echte Prognosen für den Herbst nicht abgeben, weil die Entwicklung sehr stark vom Steigen der Impfquote abhängt. Wir sollten noch ein paar Wochen warten, wie sich das Impfverhalten der Menschen entwickelt. Sollte sich die Impfquote kaum noch ändern, könnten wir die Entwicklung der Intensivzahlen relativ genau vorausberechnen. Aber dafür ist es jetzt noch zu früh.

    Professor Christian Karagiannidis
    Professor Christian Karagiannidis Foto: Kliniken Köln/Felix Schmitt

    Welchen Trend erwarten Sie für die kommenden Monate?

    Karagiannidis: Die Zahlen werden steigen, aber wir rechnen damit, dass wir die Situation im September im Griff haben. Bauchschmerzen bereitet uns die Zeit ab Oktober, November – wenn sich das Leben stark in die Innenräume verlagert und wieder die Heizungen angehen. Wir sehen schon jetzt, wie stark sich die Delta-Variante in geschlossenen Räumen ausbreitet. Wenn wir bis Oktober nicht die Impfquote deutlich nach oben bringen, bekommen wir im Herbst einen richtig starken Anstieg der Corona-Fälle auf den Intensivstationen.

    Mediziner glauben nicht mehr an Schutz durch Herdenimmunität

    Was machen denn zehn Prozent mehr oder weniger Impfquote aus? Solche Unterschiede gibt es ja auch unter den Bundesländern …

    Karagiannidis: Der Unterschied einer zehn Prozent höheren oder niedrigeren Impfquote ist bei der Auswirkung auf die Intensivstationen enorm. Das ist eine sehr einfache Rechnung: Bei einer Impfquote von 80 Prozent gibt es doppelt so viele Gefährdete wie bei einer Impfquote von 90 Prozent, denn dann gäbe es nur zehn Prozent Ungeimpfte statt 20 Prozent. Bei einer Impfquote von 70 Prozent ist die Zahl dreimal so hoch. Es gibt in der Altersgruppe von 18 bis 59 Jahren über 40 Millionen Menschen. Und da macht der Unterschied, ob sich vier Millionen mit dem Virus infizieren können oder acht Millionen, sehr viel aus. Deshalb hilft uns an den Intensivstationen eine zehn Prozent höhere Impfquote unheimlich viel. Wir sind sehr skeptisch, ob man mit der Delta-Variante eine Herdenimmunität erreichen kann, die auch die Ungeimpften mitschützen würde. Das heißt am Ende, man ist entweder geimpft oder man macht früher oder später die Infektion durch.

    Wie hoch ist das Risiko, dass wir diesen Herbst ähnlich hohe Patientenzahlen erreichen wie vergangenes Jahr?

    Karagiannidis: Das hängt sehr stark davon ab, mit welch hohem Tempo die Welle anwächst. Das liegt aber auch am Verhalten der Bevölkerung. Wir haben schon in den letzten Wellen gesehen, dass die Menschen sehr stark ihr Verhalten anpassen, wenn die Zahlen hochgehen. Bei hohen Inzidenzen werden viele Menschen in Quarantäne kommen, was insgesamt zu größerer Vorsicht führen könnte. Dieser Faktor ist entscheidend, ob es noch mal so einen hohen Anstieg der Infektionen gibt. Aber das können wir heute noch nicht abschätzen.

    Zur Person: Christian Karagiannidis ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensiv-und Notfallmedizin. Er leitet das Ecmo-Beatmungszentrum der Lungenklinik Köln und das Divi-Intensivregister.

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