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Interview: Hunger, Kriege, Covid: "Das ist die größte Krise unseres ganzen Lebens"

Interview

Hunger, Kriege, Covid: "Das ist die größte Krise unseres ganzen Lebens"

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    Zwei Kinder in Kenia spielen mit einem Ball. Für viele Heranwachsende war die Schule auch deshalb wichtig, weil sie dort eine Mahlzeit erhalten haben. Das fällt nun wegen Corona weg.
    Zwei Kinder in Kenia spielen mit einem Ball. Für viele Heranwachsende war die Schule auch deshalb wichtig, weil sie dort eine Mahlzeit erhalten haben. Das fällt nun wegen Corona weg. Foto: Donwilson Odhiambo, dpa

    Herr Husain, die Corona-Krise hat viele Erfolge der Entwicklungsarbeit zunichtegemacht, Länder wurden um Jahre zurückgeworfen. Wie erleben Sie die Situation?

    Arif Husain: Ich bin davon überzeugt, dass wir uns in der größten Krise unseres ganzen Lebens befinden. Schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie war die Welt in einer schwierigen Lage. Es gab eine wachsende Zahl gewaltsamer Konflikte. Der Klimawandel war nicht mehr nur eine theoretische Debatte, sondern reale Gefahr. Die Ungleichheit nahm zu. Und beim Thema Ungleichheit an Chancen und Möglichkeiten. Wer Chancen hat, kann es zu etwas bringen. Aber wer nicht mal eine Chance hat – also keine Infrastruktur, keinen Strom, kein Internet –, wird es aus eigener Kraft nicht schaffen. Diese Dinge gab es also schon. Und dann kam Corona.

    Welche Folgen hat dieses Virus?

    Arif Husain: Corona hat zwei Dinge getan. Erstens: Leute, die ohnehin schon Schwierigkeiten hatten, haben nun noch mehr davon. Wer arm ist, im informellen Sektor arbeitet und dann seinen Job verliert, weil plötzlich der Tourismus brach liegt, wird durch Covid ein echtes Problem haben. Zweitens: Kleine wie große Regierungen haben 26 Billionen Dollar ausgegeben, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzufedern. Die Kapazitäten, den Hunger und die Armut in der Welt zu bekämpfen, schrumpfen damit. Die Not wächst also, aber die Möglichkeiten, sie zu bekämpfen sind beschränkt. Die Lücke wird wachsen. Covid wird unsere Möglichkeiten, diese Missstände zu bekämpfen, signifikant einschränken.

    Ein unterernährtes Kindes im Ibn Sina Krankenhaus in Syrien. Das Welternährungsprogramm WFP geht von 270 Millionen Menschen aus, die in 2021 akut an Hunger leiden oder davon stark gefährdet sein werden.
    Ein unterernährtes Kindes im Ibn Sina Krankenhaus in Syrien. Das Welternährungsprogramm WFP geht von 270 Millionen Menschen aus, die in 2021 akut an Hunger leiden oder davon stark gefährdet sein werden. Foto: Anas Alkharboutli

    Auch weil viele Regierungen denken, die Not anderer gehe sie nichts an.

    Arif Husain: In einer globalisierten und miteinander verbundenen Welt müssen wir die Probleme der anderen zu unseren eigenen machen – weil sie es sind. Das wird eine Lektion aus der Corona-Krise sein. Wenn wir das nicht lernen, werden wir alle einen sehr hohen Preis zahlen. Solange wir die Krankheit nicht auf der ganzen Welt besiegt haben, ist niemand sicher. Nach der dritten, vierten Welle wissen wir, dass sich die Mutationen nicht aufhalten lassen. Ich bin ein Zahlen-Mensch, ich muss mir nur die Statistiken anschauen.

    "In Afrika ist nur ein Bruchteil der Menschen geimpft"

    Die Statistiken sagen, dass die Situation in Afrika vergleichsweise gut ist. Wie sehen Sie das?

    Arif Husain: Wir haben vier Millionen Corona-Tote weltweit. Davon sollen nur 150.000 aus Afrika kommen – alleine 50.000 aber aus Südafrika, dem am besten entwickelten Land des Kontinents. Für mich klingt das unwahrscheinlich. Warum soll es in

    In den reichen Ländern machen die Impfkampagnen deutliche Fortschritte. Doch um die Entwicklungsländer kümmert sich nach wie vor kaum jemand.

    Arif Husain: Jeder Tag, den wir hier verlieren, ist eine Gefahr für die Stabilität in der Welt. Das müssen die Politiker verstehen. Wer Impfstoffe an ärmere Länder abgibt, tut das nicht nur für die Menschen dort, sondern auch für seine eigene Bevölkerung und für die eigene Wirtschaft. Diesen Wandel in der Denkweise brauchen wir. Wir müssen uns auf diese Art Zeit erkaufen bis wir endlich eine Therapie gegen Covid haben. Dann wird die Krankheit eines Tages sein wie eine Grippe. Es ist also ein Ende der Krise in Sicht. Aber bis dahin haben wir viel zu verlieren und müssen deshalb überlegen, wie wir am besten durch diese Zeit kommen. Wir können das.

    Die Einkommen sinken, die Lebensmittelpreise steigen

    Trotzdem wächst der Hunger in der Welt. Wie kann das sein?

    Arif Husain: In meinen Augen dürfte es überhaupt keinen Hunger in der Welt geben. Wir wollen zum Mars fliegen und haben gleichzeitig Menschen, die an Unterernährung sterben? Da läuft doch etwas grundlegend falsch.

    Eine Krankenschwester verabreicht einer Frau eine Spritze mit Corona-Impfstoff von Astrazeneca, der von Dänemark gespendet wurde.
    Eine Krankenschwester verabreicht einer Frau eine Spritze mit Corona-Impfstoff von Astrazeneca, der von Dänemark gespendet wurde. Foto: Brian Inganga, dpa

    Warum lässt Corona das Hunger-Problem wachsen?

    Arif Husain: Lassen Sie mich einige Zahlen nennen: Im Jahr 2020 sind 255 Millionen Jobs verloren gegangen. Wenn man nun davon ausgeht, dass ein Job eine vierköpfige Familie ernährt hat, stecken eine Milliarde Menschen in Schwierigkeiten. Gerade in Ländern, die vom Tourismus leben, etwa in Kenia oder in Tansania, sind viele Arbeitsplätze verloren gegangen. Hinzu kommt: Wegen der Krise sind in vielen Ländern die Währungen unter Druck geraten. In Syrien, Jemen, im Libanon und in vielen anderen Ländern müssen aber Nahrungsmittel importiert werden. Die wurden teurer. Man hat also weniger Geld zur Verfügung und zugleich steigen die Preise. Erinnern Sie sich an den Ausbruch des Arabischen Frühlings? Einer der Gründe für diese Revolution war, dass sich ein Mann in Tunesien selbst angezündet hat, weil er das Essen auf dem Markt nicht mehr zahlen konnte. Man kann sich also selbst ausrechen, welche sozialen Folgen der wachsende Hunger haben kann.

    Welche Länder bereiten Ihnen besonders große Sorgen?

    Arif Husain: Am meisten Sorgen mache ich mir um Länder, in denen mehrere Krisen zusammenkommen: Armut, Kriege und Konflikte, Klimawandel und jetzt Corona. Das ist der Fall im Jemen, in Syrien, im Südsudan, in Äthiopien, aber auch in zentralamerikanischen Ländern. Im Moment sind 41 Millionen Menschen in 43 Ländern nur einen Schritt vom Hungertod entfernt – wenn wir jetzt nicht dringend handeln. Und die Liste wird jeden Tag länger.

    Für viele Kinder fällt die einzige Mahlzeit des Tages weg

    Wie schwierig ist die Situation für Mädchen und Frauen?

    Arif Husain: Frauen sind diejenigen, die außerhalb von zu Hause arbeiten, sich aber auch zu Hause um uns kümmern. Wird jemand krank, müssen sie auch die Kranken versorgen. Hinzu kommt, dass die Gewalt gegen Frauen deutlich angestiegen ist und auch die Eheschließung junger Mädchen zunimmt. Besonders vertriebene Frauen und Mädchen sind davon betroffen. Sie sind in einer furchtbaren Situation. Überhaupt alle Kinder: Viele von ihnen haben die einzige Mahlzeit des Tages in der Schule bekommen – doch dann mussten

    Wie lässt sich das Hunger-Problem lösen?

    Arif Husain: Beendet die Kriege! Derzeit sind 99 Millionen Menschen in 23 Ländern von Krieg betroffen. Krieg ist die Hauptursache von Hunger. Auch der Kampf gegen den Klimawandel ist wichtig – so können wir das Leben von Menschen verbessern. Insofern ist Corona für uns eine Lehrstunde: Wir können es künftig besser machen.

    Verlieren Sie manchmal die Hoffnung?

    Arif Husain: Ich verliere die Hoffnung nicht, aber manchmal frustriert mich das fehlende Handeln. Wenn wir anfangen, die Hoffnung zu verlieren, was sollen dann erst die Menschen machen, die in Not sind? Hoffnung ist ein wichtiger Teil meines Berufes. Wir wissen, dass wir mit unserer Arbeit Menschenleben retten und verbessern können.

    Arif Husain
    Arif Husain Foto: Rein Skullerud

    Zur Person: Arif Husain ist Chefökonom und Direktor des Welternährungsprogramms (WFP) der Vereinten Nationen mit Sitz in Rom.

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