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Interview: Familienministerin Giffey: "Sollten Wirtschaft nicht gegen Familie stellen"

Interview

Familienministerin Giffey: "Sollten Wirtschaft nicht gegen Familie stellen"

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    Bundesfamilienministerin Franziska Giffey: „Das war auch bei uns nicht einfach, Homeschooling, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen“, sagt die Mutter und SPD-Politikerin.
    Bundesfamilienministerin Franziska Giffey: „Das war auch bei uns nicht einfach, Homeschooling, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen“, sagt die Mutter und SPD-Politikerin. Foto: Christoph Soeder, dpa

    Frau Giffey, die Corona-Krise und der Lockdown haben Familien teils extrem belastet. Jetzt zahlt die Bundesregierung eine Prämie von 300 Euro je Kind. Da fragen sich viele frustrierte Eltern, ob es das schon gewesen ist. War’s das wirklich?

    Franziska Giffey: Nein, das war es natürlich nicht. Wir haben ja ein ganzes Paket an Maßnahmen für die Familien in Deutschland beschlossen. Zum Beispiel die milliardenschweren Investitionen in den Ausbau von Kitas und Ganztagsschulplätzen, die Mehrwertsteuersenkung und die Verdopplung des steuerlichen Entlastungsbetrags für Alleinerziehende. Schon am 1. April, ganz kurz nach dem Lockdown, haben wir den Notfallkinderzuschlag verfügbar gemacht für Eltern, die Einkommenseinbußen haben. Und diese 300 Euro sind ja auch keine Gegenleistung für nicht vorhandene Kinderbetreuung. Wir sprechen über einen Kinderbonus, der die Kaufkraft in den Familien stärken soll, um die Konjunktur kurzfristig anzukurbeln, das ist etwas völlig anderes.

    Warum wird der Bonus dann nicht auch für Besserverdiener gezahlt?

    Giffey: Erst mal bekommen ihn alle mit dem Kindergeld überwiesen, aber wir haben die Steuerfreibeträge nicht verändert. Das bedeutet, dass die Bezieher höherer Einkommen nicht doppelt begünstigt werden, das wäre nicht gerecht. Deshalb schmilzt der Kinderbonus bei höheren Einkommen stufenweise ab. So haben wir von den 18 Millionen Kindern und Jugendlichen, die das bekommen, etwa drei Millionen, bei denen der Bonus nicht greift. Diese drei Millionen Kinder leben in Familien, die ein überdurchschnittliches Einkommen haben und die keine zusätzliche Stärkung ihrer Kaufkraft brauchen.

    Trotz all der Maßnahmen, die Sie schildern, ist für viele Familien der Eindruck entstanden, dass es Rettungsschirme für alle möglichen Branchen, Firmen und Gruppen gab, aber nicht für sie. Wer rettet eigentlich die Familien?

    Giffey: Wir sollten die Wirtschaft nicht gegen die Familien stellen. Denn: Wer ist denn die Wirtschaft? Da arbeiten Millionen von Vätern und Müttern. Wenn wir Kurzarbeitergeld für über zehn Millionen Menschen ermöglichen, dann müssen unzählige Kinder nicht fürchten, dass ihre Eltern ihre Arbeit verlieren. Das gilt auch für die 25 Milliarden Euro Überbrückungshilfen für die Wirtschaft, gerade für die Branchen, in denen viele Frauen arbeiten. Darüber hinaus haben wir die Lohnausfallzahlungen für Eltern, die, weil sie ihre Kinder betreuen müssen, nicht arbeiten gehen können, verlängert. Sie erhalten 67 Prozent vom Netto für zehn Wochen pro Elternteil. Und wir haben das Elterngeld coronafest gemacht, damit werdende Eltern, die jetzt weniger Einkommen haben, nicht später weniger Elterngeld bekommen. All diese Maßnahmen suchen auch international ihresgleichen. Deutschland wird es nur weiter gut gehen, wenn wir möglichst viele Arbeitsplätze retten. Die Wirtschaft, das sind doch wir alle.

    Welche Lehren sind aus der Pandemie für das System der Unterstützung von Familien zu ziehen? Wie kann es krisenfester werden?

    Giffey: Ein ganz wesentlicher Punkt ist, dass wir noch digitaler werden müssen. Wir werden diese Woche im Kabinett das Digitale-Familienleistungen-Gesetz beschließen. Wir bündeln damit die wichtigsten Leistungen bei der Geburt eines Kindes. In Zukunft werden Eltern mit einem digitalen Antrag die Geburtsurkunde, das Elterngeld, das Kindergeld und den Kinderzuschlag beantragen können. Alle notwendigen Angaben machen sie dabei nur noch ein Mal. Spätestens 2022 sollen diese Vorteile bundesweit allen Eltern zur Verfügung stehen.

    Digitales-Familienleistungen-Gesetz? Das klingt ja sehr sperrig. Ihr Ministerium ist sonst für griffige Namen für komplizierte Regelwerke bekannt, das „Gute-Kita-Gesetz“ oder das „Starke-Familien-Gesetz“. Wer denkt sich diese Bezeichnungen eigentlich aus?

    Giffey: Ich finde, das ist doch nicht so schwer zu verstehen. Für mich ist es immer wichtig, dass man aus dem Gesetzestitel lesen kann, worum es geht. Die anderen Namen sind ein Wunsch von mir, das haben wir im Ministerium gemeinsam entwickelt. Wenn mir jemand in Berlin, der mit Politik erstmal überhaupt nichts am Hut hat, sagt, Frau Giffey, ‘wat Sie da machen mit dem Gute-Kita-Gesetz, dit find’ ick in Ordnung’, dann ist das für mich ein Erfolg. Und der Erfolg von Politik hängt maßgeblich davon ab, dass die Menschen verstehen, was wir tun.

    Sie haben einen zehnjährigen Sohn. Wie sind Sie und Ihre Familie durch die erste Phase der Corona-Krise gekommen?

    Giffey: Das war auch bei uns nicht einfach, Homeschooling, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Wir haben das aber ganz gut geschafft. Bei allen Schwierigkeiten und Belastungen darf man aber eins nicht aus dem Blick verlieren: Wir in Deutschland haben die Krise auch im internationalen Vergleich gut gemeistert. Zu keinem Zeitpunkt hatten wir eine Überlastung des Gesundheitssystems. Auch das Versorgungssystem – Strom, Wasser, Lebensmittel, Müllabfuhr – das hat alles funktioniert. Gut, es gab anfangs nicht ausreichend Klopapier, aber das war sehr schnell wieder da. Alle Engpässe durch Hamsterkäufe sind binnen kürzester Zeit behoben worden.

    Neue Studien legen nahe, dass von Kindern wohl eine geringere Corona-Infektionsgefahr ausgeht, als befürchtet. Hinterher ist man zwar immer schlauer, aber war die schnelle Schließung von Schulen und Kindergärten vielleicht doch übertrieben?

    Giffey: Absolut nicht, ich bin davon überzeugt, dass das notwendig war. Am Anfang hatten wir einen deutlichen Anstieg der Infektionen in Schulen und Kitas. Das sind nun mal Großveranstaltungen, jeden einzelnen Tag begegnen sich da Hunderte von Menschen, Kinder, Eltern, Lehrerinnen, Erzieher. Mit dem Lockdown sind die Infektionen zurückgegangen, darum gab es keine Alternative zu dieser Maßnahme. Sie hat dazu geführt, dass wir nicht so viele schwere Krankheitsverläufe und auch nicht so viele Tote zu beklagen hatten.

    Jetzt steht die Öffnung von Schulen bevor und Kitas kehren in den Regelbetrieb zurück. Geht das überhaupt so reibungslos?

    Giffey: Das ist ein klares, gutes Signal und ein großer Schritt hin zu Normalität. Aber das zu organisieren, ist nicht so einfach. Wenn 100 Prozent der Kinder wieder zu den gewohnten Zeiten in die Einrichtung gehen, wird die Abstandsregel nicht aufrechtzuerhalten sein. Dann müssen vor Ort andere Lösungen für Verhaltensregeln und Hygienestandards gefunden werden. Und die Personalfrage ist eine ganz entscheidende – besonders, wenn im Kollegium viele zu einer Risikogruppe gehören. Es braucht Teststrategien, um auf ein Infektionsgeschehen schnell und unmittelbar reagieren zu können.

    Sie fordern einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Wie hoch schätzen Sie die Chance ein, dass das so kommt?

    Giffey: Der Rechtsanspruch ist ja im Koalitionsvertrag verankert und es gibt auf Bundesebene in SPD und Union den festen Willen, das hinzubekommen. Der Bund stellt für die Ganztagsbetreuung in den Grundschulklassen 1 bis 4 sehr viel Geld zur Verfügung – aktuell reden wir über fast vier Milliarden Euro Investitionskosten plus eine Beteiligung an den Betriebskosten – und ich erwarte jetzt von den Ländern, dass sie sich hier bewegen. Wir müssen uns auf diesen Weg machen, der Bedarf steigt, ein großer Teil der Eltern wünscht sich das.

    Sexueller Missbrauch von Kindern und häusliche Gewalt werden oft durch Hinweise von Erziehern oder Lehrern entdeckt. Während der Schließung von Kitas und Schulen ging die Zahl der Meldungen zurück. Kinderschützer fürchten, dass die tatsächliche Zahl während des Lockdowns gestiegen ist. Wie hoch schätzen Sie die Dunkelziffer?

    Giffey: Leider gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, aber wir müssen davon ausgehen, dass das Hellfeld kleiner und das Dunkelfeld größer geworden ist. Logischerweise fallen durch die Schließung der Einrichtungen Entdeckungsmöglichkeiten weg. In Familien, wo es ohnehin schon schwierig war, verschärfen sich jetzt die Probleme. Das sagen uns alle Experten. Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass Schulen und Kitas jetzt wieder öffnen, damit Kinder auch Ansprechpartner außerhalb der Familie haben.

    Was muss getan werden, um Kinder besser zu schützen?

    Giffey: Gewalt und Missbrauch passieren im Verborgenen, deshalb braucht es in der Gesellschaft eine höhere Sensibilität und auch den Mut, hinzusehen und besonnen zu handeln, wenn in der Nachbarschaft, in der Familie, im Sportverein etwas nicht in Ordnung zu sein scheint. Hinter der schönsten Fassade kann manchmal Schreckliches passieren. Wir brauchen ein Kinder- und Jugendhilferecht, das den Kinderschutz noch stärker in den Mittelpunkt stellt. Wir brauchen einen Jugendmedienschutz, der im Zeitalter der Digitalisierung adäquat reagieren kann. Wir brauchen Standards für eine kindgerechte Justiz, denn schlechte Kinderschutzverfahren schützen die Täter. Und wir brauchen Fortbildungen für Familienrichter und pädagogische Fachkräfte, damit sie Missbrauch erkennen und richtig damit umgehen können. An all diesen Themen arbeiten wir.

    Braucht es auch schärfere Gesetze gegen sexuellen Missbrauch? Ihre Parteifreundin, Justizministerin Christine Lambrecht, hat erst nach einigem Zögern Unionsforderungen nach Strafverschärfung zugestimmt...

    Giffey: Härtere Strafen sind zu begrüßen, gerade auch was Kinderpornografie betrifft. Wichtig ist aber vor allem, dass der jetzt schon bestehende Strafrahmen am oberen Ende ausgeschöpft wird. Das geschieht ja nur in den wenigsten Fällen. Für die schlimmsten Taten sind 15 Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung möglich.

    Laut der Soziologin Jutta Allmendinger hat die Corona-Krise die Gleichstellung von Frauen um 30 Jahre zurückgeworfen, viele Familien seien in traditionelle Rollenmuster zurückgefalllen. Der Mann verdient das Geld, die Frau hütet Heim und Kinder. Teilen Sie diese Ansicht?

    Giffey: Das ist ein wichtiger Punkt, aber ich halte das in dieser Dimension schon für etwas übertrieben. Insgesamt haben Väter in den vergangenen Jahren mehr Erziehungsarbeit übernommen, häufig auch jetzt in der Krisenzeit. Es hat sich gesellschaftlich viel bewegt. Heute nehmen gut 40 Prozent der Väter Elternzeit – ja, meist nicht so viel wie die Mütter, aber oft mehr als die zwei Mindestmonate. Aber es stimmt, dort wo Ungleichheiten schon bestanden, haben sie sich teils weiter verschärft. Meist sind es ja doch die Frauen, die Hausarbeit und Kindererziehung schultern und meist stecken die Frauen zurück, wenn es darum geht, wer zeitweise zuhause bleibt, auch weil sie oft weniger verdienen.

    In vielen deutschen Chefetagen sind Frauen noch immer nur schwach vertreten. Woran liegt das?

    Giffey: Jedenfalls nicht an der SPD. Die Justizministerin und ich, wir haben ja einen Gesetzentwurf vorgelegt und wollen, dass in den Chefetagen großer Unternehmen mit großen Vorständen mindestens eine Frau vertreten ist. Bislang sind über 90 Prozent der Vorstände Männer. Und 70 Prozent der betroffenen Unternehmen wollen daran auch nichts ändern, sie melden die Zielgröße Null. Das ist ein Armutszeugnis. Interview: Bernhard Junginger

    Zur Person: Franziska Giffey Die 42-jährige SPD-Politikerin ist seit März 2018 Bundesfamilienministerin. Zuvor war die Mutter eines Sohnes Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln. Sie wird als neue Berliner SPD-Landeschefin gehandelt.

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