Professor Berthold Rittberger lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Internationale Beziehungen. Sein Forschungsinteresse gilt vor allem der EU, ihrer Verfassung und Fragen ihrer Legitimation. Im Interview erläutert er die Gründe für den Separatismus in Schottland, Katalonien, Flandern oder Norditalien und wie die EU auf den Rechtspopulismus reagieren sollte.
Was sind die Ursachen für den Separatismus in Europa? Gibt es gemeinsame Merkmale?
Mit Katalonien und Schottland haben wir es beispielsweise mit zwei Regionen zu tun, die über eine stark ausgeprägte kulturelle Identität verfügen und vor allem im Fall von Katalonien sich historisch als Nation begreifen. Das allein reicht aber nicht aus, um mehr Unabhängigkeit einzufordern. Hinzu kommen institutionelle Faktoren, also wie weit diese Regionen ihre Interessen in dem größeren Staat wahren können. Ein dritter und wichtiger Punkt ist die der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Insbesondere Schottland und Katalonien aber auch Norditalien verfügen über eine starke Wirtschaftskraft. Vor allem während der Eurokrise verfestigte sich in diesen Regionen der Eindruck, überproportional starken finanziellen Belastungen ausgesetzt zu sein, die letzten Endes schwächeren Regionen zugute kommen. Dazu kommt: in Europa hätte ihre Stimme als eigenständige Staaten mehr Gewicht.
Hängt das Wiedererstarken rechtspopulistischer Strömungen in Europa mit diesem Phänomen zusammen?
Ja und nein. Die separatistischen Regionen Schottland und Katalonien profitieren beide von der EU. Dort ist das Potential des Rechtspopulismus eher klein. Diese Regionen wollen in der EU bleiben. Bei den ökonomisch starken Staaten sind die Euroskeptiker eher in der Unterzahl. Das ist vor allem in diesen Staaten ein Problem, die unter der Wirtschaftskrise besonders zu leiden haben, also dort, wo Sozialausgaben gekürzt wurden. Dazu kommt, die fortschreitende europäische Integration in einigen Bevölkerungsgruppen zunehmend als Gefahr für die eigene nationale Identität betrachtet wird. Vor diesem Hintergrund verstehen es Parteien wie der Front National in Frankreich, die Partei für die Freiheit in den Niederlanden aber auch die AfD in Deutschland, die Ängste der Bürger aufzugreifen und für ihre Ziele zu instrumentalisieren.
Warum muss ein Staatsgebiet denn mit aller Macht zusammengehalten werden, wenn doch unterschiedliche Kultur, Sprache oder Religion vorherrschen?
Die Nationalstaaten westlicher Prägung haben eine historische Entwicklung durchlaufen, bei der sich im Zuge der Staatsbildung die Identifikation kulturell eigenständiger Gruppen immer stärker am Zentralstaat ausgerichtet hat. Die zentralen Konfliktlinien verliefen nun nicht mehr zwischen Gruppen mit unterschiedlichen kulturellen oder religiösen Identitäten, sondern bezogen sich auf das Ausmaß staatlicher Umverteilung und Einflussnahme in das Wirtschaftsgeschehen. Zudem garantiert der liberale Verfassungsstaat, dass kulturelle Eigenständigkeit ausgelebt werden kann und Minderheiten angemessenen Schutz erfahren. Im Zuge der Eurokrise wird aber deutlich, dass die Leistungsfähigkeit des Zentralstaates allerdings zunehmend an seine Grenzen stößt. Einige Regionen merken das ganz besonders. Katalonien zum Beispiel wäre durchaus in der Lage auch alleine über die Runden zu kommen – vielleicht sogar ganz gut. Die Staaten wissen das natürlich auch und gewähren den Regionen daher weitreichende Autonomierechte, um sie in ihrem Staatsgebiet zu behalten.
Wie kann die EU den Spagat zwischen einem Staatenbund und einem föderalen Europa der Regionen schaffen, ohne in eine lähmende Kleinstaaterei zu geraten?
Die Handlungsfähigkeit der EU nimmt nicht unbedingt zu, indem neue Mitgliedstaaten hinzukommen – auch wenn es bislang noch ganz gut gelungen ist, die verschiedenen Interessen unter einen Hut zu bringen. Der Spagat besteht darin, die Handlungsfähigkeit zu erhalten und gleichzeitig eine stärkere Identifikation mit Europa zu entwickeln, um auch materielle Umverteilung von leistungsstärkeren zu leistungsschwächeren Staaten legitimieren zu können.
Der Blick auf die Geschichte Europas zeigt, dass die großen Imperien wie das Habsburger Reich, die Sowjetunion oder das britische und französische Kolonialreich alle irgendwann zerfallen sind. Was kann die EU aus dem Scheitern dieser Reiche lernen?
Eine Sache, die die EU bereits besser macht, ist, dass sie unterschiedliche Bevölkerungsgruppen nicht zwingt, sich zu einem größeren Herrschaftsverbund zusammenzuschließen. Dass sie nicht versucht, aus der Vielfalt eine kulturelle Einheit zu formen, sondern regionale Eigenheiten und demokratische Selbstbestimmung der Mitgliedsstaaten einfordert. Außerdem ist die Mitgliedschaft in der EU freiwillig. Die EU wird so schnell nicht auseinanderbrechen. Auch deshalb, weil sie Probleme effizienter lösen kann als die untergegangenen Imperien in der Geschichte. Achten sollte sie aber darauf, dass sie die Selbstbestimmung der Mitgliedsstaaten nicht so stark unterhöhlt, sodass sich die Bürger in den Mitgliedsstaaten nicht zunehmend fremdbestimmt wahrnehmen und - wie es in Großbritannien droht - von der EU abwenden.