Herr Knaus, Sie gelten als Erfinder des sogenannten EU-Türkei-Deals. Jetzt will die EU ein ähnliches Flüchtlingsabkommen auch mit Libyen abschließen. Schlepperboote sollen an der Küste gestoppt und Flüchtlinge in libyschen Lagern untergebracht werden. Ist das wirklich der richtige Weg, mit einem desolaten Land wie Libyen einen solchen Deal schließen zu wollen?
Gerald Knaus: Dieser Plan kann nicht funktionieren. Die von den Vereinten Nationen eingesetzte libysche Regierung kontrolliert nur Teile der Küste. Unter den jetzigen Umständen ist es illusorisch zu glauben, dass sie das Schleppergeschäft bekämpfen kann. Die Bedingungen in den Flüchtlingslagern in Nordafrika sind zudem teils katastrophal und menschenunwürdig. Dieses Abkommen wird die Flüchtlingskrise im Mittelmeer nicht lösen.
Sie werben derzeit für eine andere Lösung der Flüchtlingskrise auf dem Mittelmeer und fordern eine „EU-Mission“, die schnell über die Asylverfahren von Bootsflüchtlingen entscheidet. Wie sieht Ihr Vorschlag genau aus?
Knaus: Wir brauchen für Süditalien und Griechenland schnelle, europäische Asylmissionen. Diese sollten in wenigen Wochen entscheiden, ob ein Flüchtling, der im Mittelmeer aufgegriffen wird oder Italien erreicht, Schutz braucht. Die EU sollte zudem mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge wie Nigeria oder der Elfenbeinküste Abkommen abschließen und abgewiesene Asylbewerber sofort zurückschicken. Das führt dazu, dass viele andere Landsleute aus der Heimat der abgewiesenen Asylbewerber die teure Reise gar nicht erst beginnen. Die Zahl der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer ginge dann zurück.
Abgewiesene Asylbewerber müssen schon in Italien zurückgeschickt werden
Bedeutet das, dass die EU die Last auf Griechenland und Italien abwälzt?
Knaus: Nein. Die anderen europäischen Länder müssen für die EU-Mission Italien und Griechenland mit genügend Ressourcen und Personal ausstatten, um die Verfahren drastisch zu beschleunigen. Bisher dauern die Verfahren viel zu lange. Rückführungen funktionieren überhaupt nicht. Deshalb haben abgelehnte Asylbewerber aus Afrika gegenwärtig eine Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent, dass sie in Europa bleiben dürfen.
Die Abschiebungen scheitern aber auch daran, dass viele afrikanische Herkunftsländer sich weigern, Flüchtlinge zurückzunehmen. Was würde Ihr Plan daran ändern?
Knaus: Wichtig wäre, dass die betroffenen Länder erst ab einem bestimmten Zeitpunkt alle ihre abgewiesenen Staatsbürger zurücknehmen müssen. Dann haben sie es mit einer klar begrenzten Gruppe zu tun. Zudem müssten sie niemanden aufnehmen, der schon jetzt in Europa lebt, denn das ist in diesen Ländern extrem unpopulär. Abgesehen davon würden sie das ohnehin nicht tun. Außerdem könnte die EU den betroffenen Staaten im Gegenzug Stipendien oder Visa-Erleichterungen für Touristen anbieten.
Warum sollte Europa noch zusätzliche Angebote machen und nicht einfach auf eine härtere Gangart setzen? Viele fordern zum Beispiel, unwilligen Staaten die Entwicklungshilfe zu kürzen…
Knaus: Machen wir es ganz konkret: Soll Deutschland Nigeria, einem Land mit 169 Millionen Einwohnern, einige Millionen Euro kürzen? Geld, das dem Kampf gegen Kinderkrankheiten oder dem Ausbau erneuerbarer Energie vor Ort dient? Wer kann denn ernsthaft glauben, dass das Erfolg versprechend und sinnvoll wäre? Beim Gipfel auf Malta wurde wenig über Nigeria geredet. Dabei stammen von dort die meisten Flüchtlinge, die 2016 nach Italien gekommen sind. Andererseits wird schon darum gerungen, zwei Dinge zu vereinbaren: Man möchte die Außengrenzen sichern, aber gleichzeitig die Flüchtlingskonvention respektieren. Unser Plan würde beides miteinander kombinieren.
Flüchtlings-Abkommen mit der Türkei vollständig umsetzen
Das Rücknahmeabkommen mit der Türkei ist aber noch immer hochumstritten und hat viele Schwachstellen in der Umsetzung…
Knaus: Leider hat die EU mit dem Rückgang der Asylbewerberzahlen hier den Fokus verloren. Man lässt die griechischen Inseln allein. Das ist unklug und gefährdet das Abkommen. In der Tat müsste man sich viel mehr anstrengen, um das Abkommen vollständig umzusetzen. Wir benötigen bessere Aufnahmebedingungen. Die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln Chios und Lesbos sind zurzeit eine Schande. Zudem brauchen wir genügend Personal, um Asylentscheidungen treffen zu können. Und wir benötigen einen klaren Fahrplan mit der Türkei, damit das Land nachweisbar ein sicherer Drittstaat ist. Aber man kann die Lage in der Türkei für Flüchtlinge nicht mit Nordafrika vergleichen.
In der Türkei regiert Präsident Erdogan immer autoritärer. Darf die EU mit ihm überhaupt noch gemeinsame Sache machen?
Knaus: Die Vorstellung, dass die EU oder Deutschland mehr Einfluss hätte, wenn es morgen kein Flüchtlingsabkommen gäbe, ist nicht überzeugend.
Erdogan droht aber immer wieder, das Abkommen aufzukündigen. Lässt sich Europa hier nicht erpressen?
Knaus: Die Türkei hat kein Interesse daran, dass in der Ägäis die Schlepper regieren und Hunderte vor ihrer Küste ertrinken wie noch vor einem Jahr. Sie profitiert zudem davon, dass die EU die syrischen Flüchtlinge in ihrem Land unterstützt, was allen – der Türkei, der EU und den Flüchtlingen – zugutekommt. Die größte Herausforderung mit dem Abkommen liegt derzeit nicht in der Türkei, sondern auf den griechischen Inseln.