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Interview: Ekin Deligöz über Corona-Bilanz der Großen Koalition: "Familien wurden allein gelassen"

Interview

Ekin Deligöz über Corona-Bilanz der Großen Koalition: "Familien wurden allein gelassen"

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    Ekin Deligöz sitzt für die Grünen im Bundestag.
    Ekin Deligöz sitzt für die Grünen im Bundestag. Foto: Alexander Kaya (Archivfoto)

    Frau Deligöz, Sie haben die Grünen in den Koalitionsverhandlungen mit SPD und FDP im Bereich Familienpolitik vertreten. Was können Kinder von einem Ampel-Bündnis erwarten?

    Ekin Deligöz: Die Belange von Kindern und Jugendlichen wurden unter den unionsgeführten Regierungen in den letzten 16 Jahren sträflich vernachlässigt. Kinder haben Rechte und Corona hat uns gelehrt, wir dürfen sie nicht hintanstellen. Ich bin davon überzeugt, dass eine Regierung aus SPD, Grünen und FDP das deutlich ändern kann und wird. Als Mitgliedstaat der UN-Kinderrechtskonvention hat Deutschland sich verpflichtet, bei allen politischen Entscheidungen und Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl von Kindern vorrangig zu berücksichtigen. Ich wünsche mir, dass Kinder-, Jugend- und Familienpolitik wieder in den Mittelpunkt gestellt wird. In einer neuen Regierung können wir einen Aufbruch schaffen.

    Die Grünen fordern seit langem eine eigene Kindergrundsicherung. Was wird nun aus diesem Vorhaben?

    Deligöz: Wir wollen Kindern und Jugendlichen bessere Chancen, unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern, ermöglichen. Wir konzentrieren uns auf die Kinder, die am meisten Unterstützung brauchen. Die drei Parteien konnten sich glücklicherweise bereits im Sondierungspapier auf die Einführung einer Kindergrundsicherung einigen. Ich bin deshalb sehr zuversichtlich, dass wir auch eine bekommen werden.

    Der Versuch, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, ist zuletzt gescheitert. Ändert das die Ampel?

    Deligöz: Die Corona-Pandemie zeigt uns deutlich, wie wichtig es ist, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Denn Kinder und Jugendliche leiden besonders stark. Zu Beginn der Pandemie wurden als eine der ersten Maßnahmen Schul- und Kitaschließungen diskutiert. Nachdem sich die Lage dann besserte, wurde dann zuallererst über die Öffnung von Fußballstadien und Baumärkte gesprochen. Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen wurden schlichtweg ignoriert. Es wurde viel über ihren Kopf hinweg entschieden, Familien wurden allein gelassen. Besonders die Unionsparteien haben eine Stärkung der Kinderrechte bisher verhindert. Deshalb kann die Ampel-Koalition einen Aufbruch für die Kinderrechte in Deutschland bedeuten. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass dafür eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat benötigt wird. Wir müssen also auf die Union zugehen.

    Gerade hat der Bundestag das neue Infektionsschutzgesetz der Ampel-Fraktionen beschlossen. Was steht da für Kinder und Jugendliche drin?

    Deligöz: Das neue Gesetz macht eins deutlich: Kinder und Jugendliche stehen jetzt im Mittelpunkt. Die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs hat nun höchste Priorität. Wir verschärfen die Regelungen im Arbeitsbereich, damit Schulen und Kitas offenbleiben können. Wichtig zu sagen ist: Schulschließungen im Einzelfall, je nach konkretem Ausbruchsgeschehen, sind weiterhin durch die örtlich zuständigen Behörden möglich. Daran ändern wir nichts. Lediglich generelle Schließungen von Schulen schließen wir aus. Länder und Kommunen können weiterhin Maskenpflicht anordnen, Luftfilter aufstellen lassen, Abstandsgebote verhängen und sonstige Schutzkonzepte erlassen, aber eben nicht mehr den allgemeinen Präsenzunterricht aufheben. Bei den Schutzmaßnahmen haben wir klargestellt, dass die besonderen Belange von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen sind.

    Bald soll auch die Impfung von Fünf- bis Elfjährigen möglich sein. Wird das die Lage in den Schulen und Kindergärten normalisieren?

    Deligöz: Vorneweg möchte ich sagen: Es ist nicht die Aufgabe der Kinder, die Ungeimpften zu schützen. Sie dürfen nicht darunter leiden, dass viele Erwachsene sich nach wie vor weigern, ihr Impfangebot wahrzunehmen. Wir dürfen nicht zulassen, dass nun wieder als Erstes Kinder und Jugendliche unter Maßnahmen leiden müssen. Der Ausschluss von unseren Jüngsten von sozialer Teilhabe hat fatale Folgen. Vor allem für Kinder in Familien, die nicht die Möglichkeit haben, das auszugleichen. Aber auch klar ist: Nur Impfen und verantwortungsvolles Handeln hilft, die Pandemie zu bewältigen. Eltern sind verunsichert auch durch die anfänglich zögernde Haltung der Impfkommission und der Regierung. Es ist Zeit für eine Informationskampagne für Eltern und junge Menschen.

    Während der Pandemie sind Kinder öfter Opfer von Gewalt und Missbrauch geworden. Braucht es größere Anstrengungen beim Gewaltschutz?

    Deligöz: Auf jeden Fall. Für viele Kinder und Jugendliche ist psychische, körperliche, sexualisierte Gewalt und Vernachlässigung leidvoller Alltag. Dagegen muss die kommende Regierung hart vorgehen – mit starker Prävention, konsequenter Aufarbeitung und Strafverfolgung sowie weiteren Maßnahmen zur Qualitätssicherung und zum Kinderschutz in familiengerichtlichen Verfahren.

    An diesem Samstag ist internationaler Tag der Kinderrechte. Wo auf der Welt ist die Lage von Mädchen und Jungen gerade besonders dramatisch?

    Deligöz: Der Schutz von Kindern und Jugendlichen darf nicht an der deutschen Grenze aufhören. Traurigerweise erleben wir gerade an der polnischen Grenze eine humanitäre Katastrophe. Unter den Flüchtenden sind viele Kinder und Jugendliche, die um ihr Überleben kämpfen. Hilfsorganisationen müssen deshalb umgehend in das gesperrte Grenzgebiet gelassen werden. Schon jetzt sterben Menschen in der Grenzregion, und der Winter kommt ja erst. Wir dürfen die Menschen dort nicht alleine lassen. Die Menschen dort brauchen unsere Hilfe.

    Sie selbst sind in der Türkei geboren und als Achtjährige nach Bayern gekommen. Wie hat Sie das geprägt?

    Deligöz: Ich weiß, wie schwer es ist, als Kind in Deutschland anzukommen, Anschluss zu finden. Ich bin als kleines Mädchen in dieses Land gekommen, die Botschaft damals war klar: Ihr gehört nicht dazu. Die deutschen Schüler spielten im Innen-, die türkischen Schüler im Hinterhof. Die anderen waren drinnen. Wir waren draußen. Nicht nur in der Schule, sondern auch in der Gesellschaft. Doch ich fand mich damit nicht ab. Ich wollte dazugehören und nicht außen vor bleiben. Und ich werde nicht aufhören, mich für alle Generationen von Migrantenkindern einzusetzen, die nach mir kommen. Denn sie sollen die Chance bekommen, als mündige, selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger dieses Landes aufzuwachsen: als Demokratinnen und Demokraten in einem Rechtsstaat, optimistisch und zuversichtlich.

    Zur Person: Ekin Deligöz, 50, wuchs in Senden auf. Seit 1997 hat die verheiratete Mutter zweier Kinder einen deutschen Pass, seit 1998 ist sie im Bundestag.

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