„Wir müssen nicht die Erde retten, sondern uns“ – Herr von Hirschhausen, das steht auf der Rückseite Ihres neuen Buches „Mensch, Erde! Wir könnten es so schön haben.“ Es zeigt Sie, als Sie mit einem Stethoskop einen Globus „abhören“. Wie viel Lebenszeit geben Sie dem Patienten Erde noch?
Eckart von Hirschhausen: Die Erde hat viel Zeit. Aber wir Menschen nicht. Und das ist die entscheidende Aussage meines Buches: Wir haben sehr viel Zeit verloren, indem wir die Klimadiskussion sehr abstrakt geführt haben. Wir haben immer gedacht, es geht um Pandabären oder einen kleinen Inselstaat im Pazifik, wo wir noch nicht einmal im Urlaub waren – alles weit weg. Daher ist für mich die Aussage von Johan Rockström so zentral, der das Konzept der planetaren Grenzen mitentwickelt hat; er sagt: Wir haben noch etwa zehn Jahre „Zeit-Budget“.
Und dann?
von Hirschhausen: Dann geht 2030 zwar nicht die Welt unter, aber dann sind die sogenannten Kipppunkte überschritten, an denen sich überhaupt noch Dinge ändern lassen: Eis, das geschmolzen ist, kommt nicht wieder. Eine Tierart, die ausgestorben ist, kommt nicht wieder. Mich beeindruckt der Satz: Wenn die Klimakrise das Fieber der Mutter Erde ist, dann ist das Artensterben ihre Demenz. Und ich glaube diese Radikalität, dass wir unweigerlich die Kipppunkte überschreiten, haben viele noch nicht auf dem Schirm. Da mache ich bei mir keine Ausnahme: Bevor ich vor drei Jahren begann, mich für die Recherche meines neuen Buches intensiv mit dem Klimawandel und seinen direkten Auswirkungen auf unsere Gesundheit zu beschäftigen, war mir das auch nicht so klar bewusst. Daher bin ich jetzt so froh, dass wir ein Urteil vom Bundesverfassungsgericht zum Klimaschutz haben und dass eine Bundestagswahl ansteht, bei der für alle Parteien Klimaschutz ein wichtiges Thema sein wird. Ich habe das Gefühl, wir leben in historischen Zeiten, und wenn wir es packen, dann jetzt, und zwar mit Vollgas.
Was ganz konkret macht uns krank?
von Hirschhausen: Als ich Pflegepraktikant war, wurde noch ganz analog mit einem Fieberthermometer gemessen. Jedes Fieberthermometer endet bei 42 Grad. Und das hat einen einfachen Grund: Mehr zu messen, macht keinen Sinn, denn dann ist der Mensch tot. Wir hatten jetzt schon in Deutschland fast 42 Grad Außentemperatur. Viele hängen dem Irrglauben an: Wir Menschen gewöhnen uns schon daran. Doch das Problem ist, dass Hitze eine völlig unterschätzte Gefahr ist für den Menschen. Deutschland hatte im vergangenen Jahr weltweit die drittmeisten Hitzetoten, weil vor allem ältere Menschen die Hitze nicht aushalten. Die Hitze ist aber nur das eine große Problem. Das zweite ist das Sterben des Waldes. Der Wald ist der Spiegel des Zustands der Natur. Aus dem Waldschadensbericht der Bundesregierung – und den machen nicht irgendwelche linken Ökospinner – geht hervor, dass vier von fünf Bäumen kaputtgehen.
Und was hat der Wald konkret wieder mit unserer Gesundheit zu tun?
von Hirschhausen: Zum einen kühlt der Wald – in Städten ist es zehn, zwölf Grad heißer als in den Wäldern drumherum. Wenn der Wald stirbt, fehlt auch die Filterung von Feinstaub und ein wichtiger Erholungsraum. Ich habe auf mein Buch den Slogan „3 Krisen zum Preis von 2!“ draufgeschrieben, weil ich den Zusammenhang dieser drei Krisen, der Klimakrise, des Artensterbens und Corona erklären will.
Corona ist also eine Folge unseres ausbeuterischen Umgangs mit der Erde?
von Hirschhausen: Corona ist entstanden, weil wir die Wildtiere weltweit jagen, ihnen keinen Raum mehr zum Rückzug geben, sie essen. HIV kam vom Affen, Corona direkt oder indirekt von der Fledermaus. Die Dynamik mit den Zoonosen, also dass Infektionskrankheiten, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden, jetzt immer häufiger auftreten werden, hat maßgeblich mit unserem Handeln zu tun. Und verwirrt sind wir oft, weil wir uns nur immer als Opfer sehen, wir sind aber Opfer und Mitverursacher zugleich.
Welche Krankheiten konkret sind auf den Klimawandel zurückzuführen?
von Hirschhausen: Das fängt bei den Zecken an: Ihnen geht es sehr gut. Normalerweise wird ihr Bestand im Winter reduziert, nicht aber in warmen Wintern. Die Frühsommer-Meningoenzephalitis, also FSME, tritt nun schon im Januar auf. Auch Allergien nehmen sehr stark zu, weil sich invasive Arten wie etwa Ambrosia stark vermehren oder der wärmeliebende Eichenprozessionsspinner. Bei uns breitet sich das West-Nil-Virus immer mehr aus; da weiß man doch schon beim Namen, dass dieses Virus nicht in unsere Breiten gehört. Genauso wenig wie die asiatische Tigermücke. Ich will keine Panik verbreiten. Aber unser Gesundheitssystem ist miserabel vorbereitet auf das, was noch kommt. Corona war für mich der Testlauf. Wir können uns nicht weiter der Illusion hingeben, das alles hat mit Deutschland nichts zu tun. Aber ich habe auch positive Nachrichten.
Da bin ich gespannt.
von Hirschhausen: Augsburg gehört zu den wichtigsten Forschungszentren auf dem Gebiet. Die Umweltmedizinerin Claudia Traidl-Hoffmann, die das Buch „Überhitzt“ geschrieben hat, baut an der Uni ein Zentrum für Klimaresilienz auf.
Ja, da tut sich sehr viel.
von Hirschhausen: Und lassen Sie uns kurz zu meinem Beispiel mit dem Fieberthermometer zurückkommen: Wenn das früher in der Klinik im Patientenzimmer auf den Boden gefallen ist, wurde das Zimmer evakuiert, weil das Thermometer giftiges Quecksilber enthielt. Als Pflegepraktikant habe ich dann die kleinen Kügelchen zusammenkehren müssen. Die Absurdität ist jetzt aber, dass die Braunkohleverstromung, die kein Mensch braucht, die nur aufgrund politischer Fehlentscheidungen noch in Deutschland am Laufen ist, über fünf Tonnen Quecksilber jedes Jahr in die Luft pustet. Davon redet keiner. Und was mich ärgert, daher bin ich bei meiner Recherche auch immer politischer geworden, dass stets so getan wird, als wäre die Energiewende allein eine Sache für Ingenieure. Keiner spricht darüber, welchen Preis wir bezahlen, wenn wir nichts machen, nämlich dass die Luftverschmutzung immer schlimmer wird. Und Luftverschmutzung ist der Killer Nummer eins mit acht Millionen Toten im Jahr. Zum Vergleich: Bei Corona sind es drei Millionen. Ich habe gemerkt: Ich muss meine Sichtweise als Arzt erweitern.
Wie meinen Sie das?
von Hirschhausen: In meinem Studium ging es immer darum, dass man als Arzt dem einzelnen Patienten, der gerade vor einem sitzt, die bestmögliche Therapie zukommen lässt. Doch Corona hat gezeigt, dass das nicht reicht, dass es am wichtigsten ist, dass wir möglichst viele Leute impfen, dass wir die Hygieneregeln einhalten. Corona hat uns gezeigt, dass Gesundheit global gedacht werden muss. Und „global“ heißt heute: auch hier.
Wenn sich beim Corona-Impfstoff aber die reichen Länder als Erste bedienen, dann ist klar, dass es mit der globalen Gesundheit nicht weit her ist, oder?
von Hirschhausen: Das ist wirklich ein Armutszeugnis und eine Schande, die uns noch leidtun wird. Es gibt die Covax-Initiative, die ich auch unterstütze und die sich für eine gerechtere Verteilung der Impfstoffe einsetzt. Vor allem will sie darauf achten, dass in den Ländern zuerst die Menschen in Gesundheitsberufen geimpft werden. Das heißt, bevor wir hier in Deutschland darüber reden, ob jedes gesunde Kind geimpft werden muss, sollten zuerst die Ärzte und Pflegekräfte weltweit geimpft sein. Dass sich die reichen Länder zuerst beim Impfstoff bedienten, ist nicht nur inhuman und kostet viele Menschenleben, es ist vor allem unglaublich dämlich. Denn die Mutanten werden sich vor allem dort ungehindert ausbilden, wo das Virus ungebremst unterwegs ist. Und deswegen muss man nicht nur aus christlicher Nächstenliebe, sondern auch aus Eigennutz sagen: Leute, lasst uns auch die Impfstoffproduktion in ärmeren Ländern aufbauen und fördern. Wir kommen aus dieser Pandemie erst heraus, wenn wir weltweit alle Menschen geschützt haben und nicht nur die in Deutschland.
Apropos impfen, was raten Sie Eltern: Sollen sie ihr Kind impfen lassen?
von Hirschhausen: Ich denke, die Ständige Impfkommission tut gut daran, hier vorsichtig mit einer Empfehlung für alle Kinder ab zwölf Jahren zu sein, bevor nicht ausreichend Daten vorliegen, um den Nutzen für jedes Kind zu belegen. Ich würde Kinder, die chronisch krank sind oder einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, sofort impfen. Kinder mit Asthma, mit einem Herzfehler, mit Downsyndrom. Der Impfstoff ist sehr sicher, aber den größten Nutzen hat er immer dort, wo die Infektionsgefahr und die schweren Verläufe wahrscheinlicher sind.
Impfen ist das eine aktuelle Thema, Erleichterungen das andere. Haben Sie keine Bedenken, dass viele krisenmüde sind und denken: Jetzt kommt der von Hirschhausen mit der Klimakrise daher, wir wollen doch endlich wieder in Urlaub fliegen, feiern?
von Hirschhausen: Doch, das verstehe ich auf der einen Seite gut, das geht mir auch so. Auf der anderen Seite wäre es verlogen zu sagen: Jetzt wird wieder alles gut. Weil vor Corona auch nicht alles gut war. Das merken die Leute auch. Und bei aller Bescheidenheit, aber, dass mein Buch seit Wochen auf Platz eins der Bestsellerliste ist, zeigt mir: Die Menschen sind weiter als die Politik.
Aber viele Fakten zur Klimakrise sind längst bekannt. Es herrscht eine große Lücke zwischen Wissen und Tun.
von Hirschhausen: Man hat lange geglaubt, man muss den Menschen nur möglichst viele Informationen geben. Doch nur, weil wir wissen, dass Chips dick machen, hören wir nicht auf, sie zu essen. Das ist menschlich. Und das ist es, was ich selbst gemerkt habe und was ich in meinem Buch zeigen möchte: Es reicht nicht nur zu beschreiben, was ist, man muss auch selbst aktiv eingreifen in die Dinge. Denn fest steht: Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir mit keinem Medikament, keiner Operation, keinem Geld der Welt die gesundheitlichen Schäden wieder einfangen können, die wir verursachen.
Was kann ich jetzt als Einzelner tun?
von Hirschhausen: Sich über den Klimaschutz immer und überall unterhalten und überlegen, wo können wir etwas ändern. Hebel gibt es überall. Und jeder von uns hat Macht. Im Ernst: Wir müssen nicht zuerst vegane Minimalisten werden, um mitzureden. Und natürlich ist es wichtig zu schauen, wo kommt mein Strom her? Jeder kann seinen Stromanbieter wechseln. Jeder kann mit seinem Konto zu einer Bank wechseln, die keine fossile Energie fördert. Auch der Enkel kann ruhig mal die Großeltern freundlich fragen, wo die Aktien liegen, bei umweltschonenden Unternehmen oder nicht? Viele Hebel sind ja längst bekannt: Zug und Rad statt Auto fahren und fliegen. So wenig Fleisch wie möglich essen. Aber: Nur den Jutebeutel zu benutzen und den regionalen Apfel zu kaufen, wird nicht reichen.
Als Klimaschützer wollen Sie sicher, dass bei der Bundestagswahl die Grünen mehr Einfluss bekommen, oder?
von Hirschhausen: Parteipolitisch halte ich mich immer zurück. Was ich fordere, ist, dass sich nun die klügsten Köpfe der Republik mit dem wichtigsten Thema befassen. Wie gesagt, wir haben nur noch zehn Jahre Zeit. Da ist auch die Medizinforschung aufgerufen: Unser Haus brennt! Da beschäftige ich mich doch nicht mit Betablockern der fünften Generation.
Was müsste eine neue Regierung als Erstes tun?
von Hirschhausen: 100 Prozent erneuerbare Energie! Keine weiteren Subventionen für eine zerstörerische Agrarwirtschaft, sondern eine Förderung der nachhaltigen Landwirtschaft. Und ein CO2-Preis, der jeden belohnt, der auf fossile Energie verzichtet.
Viele werden sich denken, jetzt ist aus dem humorvollen Mediziner ein radikaler grüner Aktivist geworden...
von Hirschhausen: Ich bin Arzt und bleibe Arzt. Und wenn die gesundheitlichen Gefahren außerhalb der Klinik liegen, dann kann ich nicht schweigen, sondern werde aktiv.
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