In der Corona-Krise ist oft von der größten Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg die Rede, der vor 75 Jahren endete. Was denken Sie, wenn sie diese Vergleiche hören?
Rafal Dutkiewicz: Wir haben es mit einer globalen Pandemie zu tun, die eine tiefe, weltumspannende Rezession auslösen wird. Wahrscheinlich wird es die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Krieg. Ich wäre dennoch vorsichtig mit der Wortwahl. Die gegenwärtige Situation ist eine Katastrophe, aber kein Krieg. Vielleicht funktioniert es eher umgekehrt: Der Corona-Shutdown, in dem die Welt den Atem anhält, erinnert uns an die Vergänglichkeit unserer Existenz und führt uns zugleich vor Augen, dass wir Krisen nur gemeinsam bewältigen können – mit einer globalen Kooperation.
Wegen der Pandemie können die Feiern zum Weltkriegsgedenken nicht wie geplant stattfinden. Was bedeutet das für die Erinnerungspolitik?
Dutkiewicz: Man sollte das Beste daraus machen und die neuen Möglichkeiten des Gedenkens im virtuellen Raum nutzen. Wichtiger als das Wie des Erinnerns ist aber, dass wir die Botschaften, die vom Mai 1945 ausgehen, im Sinn behalten. Für mich ist das Kriegsende trotz all der Tragödien ein Symbol der Hoffnung und des Aufbruchs. Nehmen Sie meine Heimat Breslau. Dort gab es einen brutalen Bruch in der Kontinuität der Stadt, aber heute blüht die gesamte Region.
Dutkiewicz: Breslauer "haben diese Geschichte als Ganzes angenommen"
Sie sagen Breslau, nicht Wroclaw?
Dutkiewicz: Wenn ich Deutsch spreche, sage ich Breslau, im Polnischen Wroclaw. Das hat seinen Grund in der Geschichte. Breslau ist die einzige Großstadt der Welt, in der die Bevölkerung innerhalb kürzester Zeit zu 100 Prozent ausgetauscht wurde. Die Deutschen wurden bei Kriegsende 1945 vertrieben, und stattdessen kamen Polen, die ebenfalls Vertriebene waren, aus dem Osten. Wir polnischen Breslauer haben diese Geschichte als Ganzes angenommen. Deswegen haben beide Namen ihre Berechtigung. Schließlich haben wir die Versöhnung vollzogen.
2019 haben sich Deutsche und Polen an den Überfall der Wehrmacht 1939 erinnert. Am Volkstrauertag haben Sie im Bundestag eine viel beachtete Rede gehalten. 2020 erinnern wir uns an die Befreiung. Wie fällt Ihre erste Bilanz des Gedenkens aus?
Dutkiewicz: Wir haben enorm wichtige Veranstaltungen erlebt. Denn wenn ich sage, dass die Versöhnung vollzogen ist, heißt das nicht, dass sie unumkehrbar wäre. Es braucht dringend Menschen, die weiterhin für die Aussöhnung eintreten. Damit meine ich zum Beispiel Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der am 1. September in Wielun, wo 1939 der Krieg begann, eine herausragende Rede gehalten hat. Auch der Besuch von Außenminister Heiko Maas am 1. August in Warschau war ein wichtiges Zeichen, am 75. Jahrestag des Aufstandes in der Stadt, die von den Deutschen dem Erdboden gleichgemacht wurde. Nicht zuletzt waren die Besuche von Steinmeier und von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Auschwitz von wesentlicher Bedeutung. Der Holocaust war die größte Tragödie der Menschheit. Wir sollten in Auschwitz die Köpfe beugen, beten und uns beschwören: Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus dürfen nie wieder die Oberhand gewinnen.
Keine Reparationen mehr im 21. Jahrhundert
Die rechtskonservative PiS-Regierung in Warschau fordert von Deutschland Kriegsreparationen. Zu Recht?
Dutkiewicz: Ja und nein. Einerseits stimmt es: Polen hat keine Reparationen bekommen, und das war eine historische Ungerechtigkeit. Andererseits leben wir in einem geeinten Europa. Deutschland hat uns auf dem Weg in die EU enorm unterstützt. Deswegen ist das 21. Jahrhundert nicht mehr die Zeit, Reparationen zu fordern. Damit stärkt man nur Rechtsextremisten und Nationalisten.
In Zeiten der Corona-Pandemie ziehen sich die Nationen wieder auf sich selbst zurück. Wie steht es um die EU?
Dutkiewicz: Das ist das schönste Projekt, das es auf dem Kontinent gibt. Es stimmt: In der Corona-Krise haben viele EU-Staaten anfangs ungeschickt reagiert, insbesondere bei den Grenzschließungen. Die Regionen zu beiden Seiten von Oder und Neiße sind dafür ein besonders bitteres Beispiel. Polen und Deutschland sind dort schon so stark miteinander verwoben, dass die Grenzschließung die Pendlerströme brutal unterbrochen und vieles zerstört hat. Trotzdem: Wir haben tausend Probleme, aber die EU ist großartig.
Rechtspopulismus und Nationalismus sind aber auf dem Vormarsch. Wie gefährdet ist die europäische Einigung?
Dutkiewicz: Jeder Mensch, der arbeitet, schwitzt. Der Schweiß muss abgewaschen werden, sonst beginnt der Mensch zu stinken. Der Nationalismus ist der nicht abgewaschene Schweiß, den Gesellschaften hervorbringen, die voranschreiten. Anders gesagt: Nationalismus stinkt. Deswegen sollte Europa eine Dusche nehmen (lacht). Im Ernst: Wir müssen die EU auf eine neue Grundlage stellen. Menschen sind soziale Wesen und brauchen eine breitere Gemeinschaft. Das war lange die Nation, aber im 21. Jahrhundert erreichen wir eine neue Etappe der Zivilisation. In diesem Sinn glaube ich, dass Rechtspopulismus und Nationalismus so etwas wie Todeskrämpfe sind, die das Ende des nationalen Zeitalters kennzeichnen. Das tut weh. Aber die nationalistische Welle wird vorübergehen.
"Die PiS muss abgewählt werden. Und irgendwann wird die PiS abgewählt."
Das Verhältnis zwischen Brüssel und Warschau ist gespannt. Die EU-Kommission hat ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen eingeleitet. Wie können beide Seiten wieder zusammenfinden?
Dutkiewicz: Wir haben derzeit in Polen keine unabhängige Justiz mehr, und das ist schrecklich. Genauso schlimm ist die antieuropäische Dynamik, die damit einhergeht. Es ist nicht so, dass die PiS einen Polexit anstrebt, einen Austritt aus der EU nach britischem Vorbild. Aber die abfällige Art, wie führende PiS-Politiker über Europa sprechen, setzt in der Gesellschaft etwas in Gang, und das ist auf Dauer gefährlich. Die Lösung ist einfach: Die PiS muss abgewählt werden. Und irgendwann wird die PiS abgewählt. So funktioniert Demokratie, und daran wird auch die PiS nicht rütteln. Da bin ich mir sicher. Polen ist nicht Russland.
Zur Person:
Rafal Dutkiewicz
, 60, regierte von 2002 bis 2018 als Oberbürgermeister in
Breslau
. Der ehemalige Solidarnosc-Aktivist erwarb sich den Ruf eines großen Versöhners. 2017 erhielt er den
Deutschen Nationalpreis
, am
Volkstrauertag
2019 hielt er im
eine bewegende Rede.
Lesen Sie dazu auch: Präsidentschaftswahl in Polen: Zwischen "Krieg" und "Staatsstreich"
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.