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Interview: Claudia Roth zur Spionage-Affäre: „Die Realität übertrifft jeden James Bond“

Interview

Claudia Roth zur Spionage-Affäre: „Die Realität übertrifft jeden James Bond“

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    Als Vizepräsidentin des Bundestags ist Claudia Roth etwas ruhiger geworden. Der Skandal um die US-Spione bringt sie trotzdem noch in Rage.
    Als Vizepräsidentin des Bundestags ist Claudia Roth etwas ruhiger geworden. Der Skandal um die US-Spione bringt sie trotzdem noch in Rage. Foto: Ulrich Wagner

    Frau Roth, Sie sind Vizepräsidentin des Bundestages. Kann man im deutschen Parlament noch offen sprechen oder müssen Sie ständig Angst haben, abgehört zu werden?

    Wenn ich ein Gespräch mit Abgeordneten führe und es nicht einmal reicht, das Handy dabei auszuschalten, sondern ich es in einen anderen Raum legen muss, dann stimmt etwas nicht. Oder wenn die Telefone der Kollegen aus dem NSA-Ausschuss in einer Metallbox gesammelt werden müssen, und auf einem Handy dann auch noch Musik laufen muss, damit man sie nicht abhören kann. Dann frage ich mich schon: Wo sind wir denn eigentlich?

    Hat Sie das Ausmaß der amerikanischen Spionage überrascht?

    Allein dass das Handy der Bundeskanzlerin abgehört wurde, ist schon ein bodenloser Skandal. Aber es geht ja mittlerweile um viel mehr. Die Situation ist dramatisch. Es geht hier um einen Angriff auf das Parlament. Jeder Tabubruch, den man sich vorstellen kann, ist passiert.

    Viele Deutsche lässt das Thema kalt…

    Das ist Claudia Roth

    Claudia Roth erblickte am 15. Mai 1955 im schwäbischen Ulm das Licht der Welt. Sie wuchs in der Nähe von Memmingen als Tochter einer Lehrerin und eines Zahnarztes auf. Die linksliberale Gesinnung der Eltern hatte erheblichen Einfluss auf ihren Werdegang.

    Nach dem Abitur studierte sie für zwei Semester Theaterwissenschaft in München. Das Landestheater Schwaben stellte sie 1975 als Dramaturgin ein. Anschließend arbeitete Claudia Roth für das städtische Theater in Dortmund und für das Kinder- und Jugendtheater in Unna.

    In Dortmund lernte sie die Kult-Band "Ton, Steine, Scherben" um Frontman Rio Reiser kennen. Von 1982 bis 1985 war Claudia Roth die Managerin der Gruppe. Gleichzeitig lebte sie zusammen mit den Musikern in der Scherben-Kommune in Schleswig-Holstein.

    Schon als Jugendliche engagierte sich Claudia Roth bei den Jungdemokraten. 1985 begann ihre Laufbahn bei den Grünen. Über die taz suchte die Bundestagsfraktion eine Pressesprecherin. Claudia Roth bewarb sich erfolgreich und behielt die Position bis 1989. Anschließend wurde sie ins Europaparlament gewählt.

    In Brüssel setzte sie sich vor allem für die Wahrung der Menschenrechte ein. Insbesondere versuchte sie die Lage der kurdischen Minderheit in der Türkei zu verbessern. Aber auch die Gleichstellung Homosexueller war für Claudia Roth ein zentrales Anliegen.

    1998 wurde Claudia Roth in den Bundestag gewählt. Bis 2001 stand sie dem neu gegründeten Ausschuss für humanitäre Hilfe und Menschenrechte vor. Anschließend übernahm sie für knapp zwei Jahre den Parteivorsitz.

    Nachdem 2003 eine Lockerung der strikten Trennung von Amt und Mandat beschlossen wurde, kandidierte Claudia Roth 2004 erneut für den Parteivorsitz. Sie konnte die Wahl für sich entscheiden und wurde seither immer wieder im Amt bestätigt.

    2004 wurde sie für ihr Engagement als Beauftragte für humanitäre Hilfe und Menschenrechte mit dem Ritterorden der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet.

    Claudia Roth ist außerdem Sprecherin des DFB-Umweltbeirates. 2010 hat sie sich erfolgreich für eine klimafaire FIFA Frauen-WM eingesetzt.

    2013 gibt Claudia Roth nach der Wahl ihr Amt als Parteivorsitzende ab und ist seither als Bundestags-Vizepräsidentin in der Politik aktiv.

    Wenn jeder Bürger verdächtigt wird, wenn alles abgehört wird, wenn das Recht auf Privatheit massiv verletzt wird, dann ist das eine Kernschmelze der Demokratie. Und wenn uns nicht gerade die Fußball-Euphorie in ihren Bann ziehen würde, wäre das sicher ein viel größeres Thema. Es kann doch nicht sein, dass das Argument Sicherheit wie ein Generalschlüssel benutzt wird, um elementare Bürgerrechte mit Füßen zu treten.

    Sie halten hier ein flammendes Plädoyer für Bürgerrechte. Kämpft die Regierung genug dafür?

    Es rächt sich jetzt bitter, dass die Regierung – und die Regierungen vorher – das Thema nicht ernst genug genommen haben. Es wird allerhöchste Zeit, dass die Kanzlerin aus ihrer Defensive kommt. Es geht nicht nur um ihr Handy. Sie ist die Kanzlerin aller Handys. Was ist unsere Verfassung denn noch wert, wenn jeder James Bond von der Realität übertroffen wird?

    Warum verhält sich die Kanzlerin Ihrer Meinung nach so defensiv?

    Sicherlich spielen wirtschaftliche Interessen eine Rolle. Stichwort: Freihandelsabkommen. Dann gibt es dieses Totschlagargument, dass man den transatlantischen Beziehungen nicht schaden will. Aber die Frage ist doch: Wer schadet hier den Beziehungen? Das sind doch die amerikanischen Geheimdienste und Sicherheitsbehörden. Und als Drittes fürchtet man möglicherweise, dass eine Verstrickung des deutschen Nachrichtendienstes ans Tageslicht kommen könnte. Denn wir müssen uns schon fragen: Welche Rolle spielt der BND?

    Der Bundesinnenminister will nun die Amerikaner stärker ausspionieren…

    Die Idee ist absurd. Es kann doch nicht sein, dass wir sagen: Wir können uns nicht schützen, also wollen wir jetzt mindestens so gut sein wie die anderen und starten eine Gegenspionage. Wenn wir so denken, landen wir in einem gefährlichen Strudel.

    Wie wollen Sie die amerikanischen Schnüffler dann stoppen?

    Vor allem müssen jetzt alle Parteien an einem Strang ziehen, wie beim Untersuchungsausschuss zu den NSU-Verbrechen. Wir brauchen Antworten und da kann auch Edward Snowden etwas ausrichten. Ich verstehe überhaupt nicht, warum es immer noch Vorbehalte gibt, ihn nach Deutschland einzuladen.

    Sicherheitsexperten warnen, der frühere US-Spion wäre in Gefahr, wenn er nach Deutschland käme…

    Das macht es ja noch schlimmer. Wenn wir nicht in der Lage sind, einen Zeugen vor unseren amerikanischen Freunden zu schützen. Ja, wo sind wir denn?

    Im Hintergrund laufen die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA weiter. Ist das ein Fehler?

    Die Gespräche müssen sofort gestoppt werden. So kann man doch nicht verhandeln, solange auf der anderen Seite des Tisches einer sitzt, der die eigene Strategie vorher kennt und alles über einen weiß.

    Angela Merkel will offenbar nicht noch weiteres Öl ins Feuer gießen…

    Aber es brennt lichterloh, und die Kanzlerin kann das nicht aussitzen. Dann heißt es immer, wir wollen niemanden provozieren. Aber die maximale Provokation ist doch das, was die US-Geheimdienste sich herausnehmen. Und die Sache wird noch schlimmer, wenn unser eigener Nachrichtendienst da mit drin hängt.

    Die undurchsichtige Arbeit der Geheimdienste wird gerne damit gerechtfertigt, dass sie für unsere Sicherheit sorgen. Was halten Sie davon?

    Aufgabe eines Staates ist es, für eine größtmögliche Sicherheit zu sorgen. Aber er darf das nicht mit antidemokratischen Mitteln tun. Unsere Sicherheit basiert eben auch auf unserem Rechtsstaat.

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