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Interview: Bundesärztekammer-Chef: „Deutschland hat viel schneller reagiert“

Interview

Bundesärztekammer-Chef: „Deutschland hat viel schneller reagiert“

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    Die Klinikkapazitäten für Coronapatienten in Deutschland sind bislang nicht ausgeschöpft. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer und Facharzt für Allgemeinmedizin erklärt, was die Politik nun dringend tun muss.
    Die Klinikkapazitäten für Coronapatienten in Deutschland sind bislang nicht ausgeschöpft. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer und Facharzt für Allgemeinmedizin erklärt, was die Politik nun dringend tun muss. Foto: Gregor Fischer, dpa (Archiv)

    Im Kampf gegen Corona gab es innerhalb Europas einen regelrechten Wettbewerb um Schutzkleidung und medizinische Geräte. Welche Lehren müssen daraus gezogen werden?

    Klaus Reinhardt: Es hat keinen Sinn, in guten Zeiten Pandemie-Pläne auszuarbeiten, die dann aber in einem Aktenordner verschwinden. Wir haben gesehen, wie wichtig es ist, sowohl Vorräte für den Notfall anzulegen als auch Produktionskapazitäten für Schutzausrüstung und Arzneimittel in Deutschland und Europa zu schaffen. Da sehe ich die EU gefordert, um hier zu einer Aufgabenteilung zu kommen, die im akuten Fall allen hilft.

    Wie weit sollte das gehen? Brauchen wir so etwas wie einen EU-weiten Bedarfsplan für Intensivbetten und Kapazitäten in den Kliniken?

    Reinhardt: Das ist ein sehr hochgestecktes Ziel. Selbst innerhalb Deutschlands ist die Krankenhaus-Bedarfsplanung nicht zentral organisiert, sondern Sache der Bundesländer. Trotzdem ist hier ein Neuansatz nötig. Es kommt darauf an, dass bei der Planung künftig stärker auch Krisenszenarien berücksichtigt werden. Nur wenige Wochen vor der Pandemie gab es eine viel beachtete Studie in Deutschland, die zu dem Fazit kam, es gebe rund 400 Krankenhäuser zu viel. Wenn wir dieser Empfehlung gefolgt wären, hätten wir unter Umständen bei uns ebenfalls Verhältnisse wie in Spanien, Italien oder Frankreich. Man wird im Nachgang zu dieser Krise sicherlich darüber reden müssen, welchem Sachverstand wir künftig folgen sollten und welchem auch nicht.

    Können deutsche Kliniken noch mehr tun, wenn es darum geht, Patienten aus anderen EU-Ländern aufzunehmen?

    Reinhardt: Das war ein wichtiges Signal der Solidarität. Im Moment können wir das auch verkraften, weil wir dafür noch ausreichend freie Kapazitäten in der Intensivmedizin haben. Hoffentlich bleibt das auch so. Ich hielte es allerdings für problematisch, wenn wir uns am Ende übernehmen und den Menschen hierzulande nicht mehr die notwendige Intensivhilfe bieten können.

    Wie erklären Sie sich, dass die Zahl der Infektionen und vor allem der Todesfälle in Deutschland so viel niedriger als in anderen Ländern ist?

    Reinhardt: Es gibt viele Gründe. Ganz wichtig war, dass Deutschland von Anfang an sehr viel getestet und dadurch mehr Infizierte nachgewiesen hat, die wir dann sofort isoliert haben. Es gab Hinweise von Medizinern in Norditalien, dass bereits im Januar dieses Jahres relativ viele atypische Lungenentzündungen registriert wurden. Da war von Corona noch nicht die Rede. Heute müssen wir annehmen, dass das Virus da schon grassierte und die offizielle Zahl der Infizierten viel zu klein ist. Da hat Deutschland sehr viel schneller und zielgerichteter reagiert.

    Hat das auch mit einem effizienteren Gesundheitssystem zu tun?

    Reinhardt: Ganz sicher hat es mit einem sehr guten Hausarzt-Netz zu tun. Sechs von sieben Infizierten werden ambulant behandelt. Der Hausarzt, der seinen Patienten aufmerksam verfolgt, weiß genau, wann er ihn rechtzeitig in die Klinik einweist. Das hat erheblich dazu beigetragen, dass unsere Klinikkapazitäten bisher nicht durch nicht notwendigerweise klinikpflichtige Patienten ausgeschöpft, die Menschen aber trotzdem gut behandelt wurden.

    Sind die offiziellen Daten also nicht verlässlich?

    Reinhardt: Nimmt man die offiziellen Angaben, sterben in Deutschland zwei Prozent der Infizierten. In Italien, Spanien oder Frankreich sind es fünf Mal mehr. Aber die Zahlen bleiben nicht aussagekräftig, weil es zahlreiche Menschen gibt, die sich nie haben testen lassen, obwohl sie möglicherweise infiziert waren, die Symptome aber eher gering ausfielen. Ich spreche hier nicht von Einzelfällen. Wie viele das sind, weiß niemand. Hinzu kommt, dass die Daten um Tage veraltet sind, weil die Patienten erst nach Auftreten von Symptomen getestet werden. Zusätzliche Zeit verstreicht, bis die Testergebnisse vorliegen und statistisch erfasst werden. Statt uns Horrorszenarien auszumalen, sollten wir uns deshalb auf klare Analysen konzentrieren. Und diese Klarheit können repräsentative Bevölkerungstests schaffen, wie beispielsweise mit den aktuellen Studien in Heinsberg und München.

    Welche Schritte zur Lockerung der Beschränkungen empfehlen Sie?

    Reinhardt: Die bisher erlassenen Maßnahmen waren völlig richtig. Wenn der Schutz gelockert werden soll, müssen wir ältere Menschen davor schützen, dass sie sich infizieren. Deshalb sollten wir in Alten- und Pflegeheime alles tun, um das sicherzustellen. Wir brauchen ausreichend Personal und ausreichende Schutzausrüstungen. Wir benötigen Schleusen, um Besucher mit Schutzausrüstung zu versehen, damit sie ihre Angehörigen wieder besuchen können. Die Kosten dafür sollte die öffentliche Hand tragen. Das Gleiche gilt für Pflegedienste oder auch Angehörige, die Familienmitglieder zu Hause betreuen. Es ist unerträglich, dass ambulante Helfer nicht über genug Masken und Material verfügen, um sich und die älteren Menschen zu schützen. All das muss bis zum 20. April gewährleistet werden.

    Wann dürfen die Deutschen wieder feiern?

    Reinhardt: Alle bisherigen Erkenntnisse zeigen, dass Feiern und Großveranstaltungen regelrechte Infektionsherde waren. Deshalb sollte man große Events, Klubs, Discos entweder geschlossen lassen oder nur dann öffnen, wenn Abstand garantiert ist. Hinzu kommt: Wir müssen mehr testen. Die Regierung sollte den Herstellern sagen: Fahrt eure Produktion hoch, produziert Tests in drei Schichten, wir zahlen das. Dies ist einer der wichtigsten Schritte, die bis zum 20. April getan werden sollten. Hinzu kommen dringende Antikörper-Tests. Denn wer nachgewiesenermaßen genügend Antikörper hat, kann morgen ohne jedes Risiko wieder raus oder arbeiten gehen.

    Wann sollte jemand über Ostern einen Arzt oder eine Meldestelle aufsuchen?

    Reinhardt: Wer nur ein leichtes Fieber und ein wenig Husten, aber keine Luftnot hat, der sollte zu Hause bleiben und sich von anderen isolieren. Ein wichtiges Kriterium ist die Luftnot. Wer feststellt, dass er bei Fieber und Husten tatsächlich schneller auch bei leichten Belastungen aus der Puste ist, der sollte sich direkt in ein Krankenhaus begeben. Um Panik zu vermeiden, will ich ausdrücklich betonen: Wirklich schwere Verläufe zeigen lediglich vier Prozent alle Erkrankten. Der weitaus größere Teil leidet lediglich an milderen Symptomen. Diese Patienten sind zu Hause besser aufgehoben.

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