Herr Miliband, die ersten Flüchtlinge in Ihrem Leben waren Ihre eigenen Eltern. Ihr Vater und Ihre Mutter sind aus Belgien und Polen vor dem Holocaust geflohen. Wie hat das Ihr Leben beeinflusst?
David Miliband: Wie viele Überlebende des Holocaust wollten meine Eltern nicht, dass dieser Schatten ewig über ihren Kindern liegt. Ich wurde im Jahr 1965 geboren, also nur 20 Jahre nach Kriegsende. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass sich meine Eltern als Flüchtlinge bezeichnet hätten und mir das aufgezwungen hätten - im Gegenteil: Sie integrierten sich sehr schnell in die britische Gesellschaft.
Sie hatten also nie Zweifel, wohin Sie gehören?
Miliband: Nein, das war nie ein Thema. Meine Mutter hat auch nie darüber gesprochen, dass ihr Vater in einem Konzentrationslager umgebracht wurde. Sie selbst wurde erst in einem Kloster, dann von einer katholischen Familie gerettet und hat nur deshalb überlebt. Mein Vater, der noch nach vielen Jahren in Großbritannien einen leichten Akzent hatte, hat manchmal erzählt, wie er Belgien verlassen und sich später der Royal Navy angeschlossen hat. Kennengelernt haben sich die beiden nach dem Krieg in London. Man kann also sagen: Wenn Großbritannien damals keine Flüchtling aufgenommen hätte, wäre ich jetzt nicht hier.
Während wir hier sitzen, im noblen Bayerischen Hof in München, sind Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. In Libyen tobt ein Krieg mit Milizionären. Die Türkei und Russland bombardieren Syrien. Wenn Sie all das sehen, blicken Sie dann pessimistisch in die Zukunft?
Miliband: Pessimistisch will ich nicht sagen. Denn wenn das schon Menschen wie ich sagen, die sich in einer komfortablen Lage befinden, was sollen dann diejenigen sagen, die um ihr Leben kämpfen. Aber ich bin sehr besorgt: Wir leben in einem Zeitalter der Straflosigkeit. Die Gesetzlosigkeit ist zur herausragenden Eigenschaft unserer modernen Welt geworden. Mächtige Staaten und nicht-staatliche Akteure können sich internationalen Gesetzen widersetzen - und kommen damit auch noch durch. Sie können sogar unsere Entwicklungshelfer, die Rettungseinsätze in Syrien unterstützen, ungestraft umbringen. Die Stärke des Rechts und die liberale Demokratie werden derzeit ganz besonders auf die Probe gestellt.
Wie lautet die Konsequenz, die Sie daraus ziehen?
Miliband: Meine Botschaft lautet: Wir müssen die Krise der Diplomatie und die Angriffe auf humanitäre Helfer stärker in den Blick nehmen. Der Westen muss sich mehr anstrengen - in Syrien, in Libyen, in Afghanistan. Aber auch bei uns muss sich etwas ändern. Und das heißt nicht, dass Deutschland oder die USA alle Flüchtlinge aufnehmen müssen. Ohnehin werden acht von zehn Flüchtlingen in armen Ländern wie etwa Jordanien versorgt.
Glauben Sie wirklich, dass Deutschland noch einmal bereit ist, eine Führungsrolle in der Flüchtlingskrise zu übernehmen? Die politische und gesellschaftliche Stimmung hat sich stark gewandelt seit 2015.
Miliband: Deutschland ist eine der größten Wirtschaftsmächte in der Welt, eines der stabilsten politischen Systeme in Europa. Deshalb müssen wir von Deutschland eine Führungsrolle erwarten. Aber das heißt natürlich nicht, dass alle Flüchtlinge nach Deutschland kommen sollen. Deutschland muss eine diplomatische Führungsaufgabe übernehmen. Dass es das kann, hat es mit der Libyen-Konferenz in Berlin bewiesen - auch wenn eine einzige Konferenz natürlich nicht die Antwort auf alle Fragen bringen kann. Aber solche diplomatischen Maßnahmen sind sehr wichtig. Denn genau das fehlt in den Kriegsgebieten auf dieser Welt: Diplomatie. Deutschland kann außerdem Beispiel sein, wie Integration gelingen kann, wie Asylverfahren schnell abgeschlossen werden.
Deutschland versucht seit Jahren, die restlichen Europäer zu einem Kompromiss in der Flüchtlingsfrage zu bewegen - allerdings ohne großen Erfolg.
Miliband: Der Frust über diesen Stillstand beim europäischen Asyl-Paket ist gewaltig. Dieses sollte eigentlich verhindern, dass sich das Chaos von 2015 wiederholt. Es sollte sicherstellen, dass jeder, der in Europa einreist, registriert ist. Dass sich alle europäischen Länder beteiligen, entweder indem sie Flüchtlinge aufnehmen oder indem sie Geld bereitstellen. Dass das Dublin-System wieder funktioniert. Wenn Deutschland im Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, muss dieses Asyl-Paket endlich geschnürt werden. Und ein Teil dieses Pakets muss auch die organisierte Umsiedlung von Flüchtlingen sein. Europa muss zeigen, dass es legale Wege in Richtung Hoffnung geben kann. Denn wenn man den Menschen die legalen Wege versperrt, begeben sie sich in die Hände von Schleppern - und das hilft niemandem.
Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz will Flüchtlingscamps in Afrika bauen. Was halten sie davon?
Miliband: Die Australier sind einen ganz ähnlichen Weg gegangen. Aber er ist nicht erfolgreich. Wir brauchen ein effektives System und das zu finden, würde in einem Drittstaat noch deutlich komplizierter werden. Europa muss sich die Verantwortung teilen, alles andere wäre unfair.
Das sehen die Osteuropäer anders…
Miliband: Wer Teil der Europäischen Union sein will, muss sich an die Regeln halten. Die 27 Mitglieder dieses Clubs haben Rechte und Pflichten. Das Problem ist: Es wurden keine allgemein verbindlichen Regeln für ein Asylsystem festgeschrieben.
Wenn Sie in Krisenländer wie den Jemen, wie Syrien oder Somalia reisen, was sagen Sie den Menschen dort, warum ihnen niemand hilft?
Miliband: Ich sage ihnen, dass ich wünschte, wir wären so mutig und energisch wie sie es sind. Die meisten Menschen dort wünschen sich übrigens, in ihren Heimatländern bleiben zu können. Wenn sie aber zur Flucht gezwungen werden, dann zaubert es ihnen meist dann ein Lächeln ins Gesicht, wenn sie über ihre Rückkehr sprechen können. Wir müssen die Situation vor Ort ändern.
Ist nicht genau das das größte Problem? Die Kriege, egal ob in Afghanistan oder im Jemen, dauern Jahre, Jahrzehnte. Die Konflikte sind so unübersichtlich, dass sie kaum noch zu lösen sind.
Miliband: Die Wurzel des Übels liegt in der Krise der Diplomatie, in der Blockade des Weltsicherheitsrates, im Unvermögen, Krisenländer zu stabilisieren. Die Herausforderung liegt darin, die Diplomatie an die heutige Zeit anzupassen, an eine Zeit, in der aus Kriegen Bürgerkriege und Stellvertreterkriege geworden sind. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis darf jedenfalls nicht sein, dass wir aufgeben.
Aber was kann der Westen tun? Reden, während Russland, die Türkei oder Saudi-Arabien die Welt unter sich aufteilen?
Miliband: Wir müssen uns in unserer Außenpolitik, unserer Handelspolitik, unserer Wirtschaftspolitik so einig zeigen wie das jene Länder tun, mit denen wir konfrontiert sind. Wir müssen unsere Werkzeuge bündeln. Das ist leichter gesagt als getan - aber das ist nun einmal die Aufgabe von Führerschaft. Das Schlimmste, was wir tun können, ist uns zu beklagen anstatt zu handeln. Aber genau das geschieht im Moment.
Zur Person: David Miliband, 54, war britischer Labour-Politiker und von 2007 bis 2010 Außenminister. Seit 2013 ist er Präsident des International Rescue Committees, einer Hilfsorganisation, die sich unter anderem für Flüchtlinge einsetzt, aber auch Entwicklungshilfe betreibt. Gegründet wurde das IRC im Jahr 1933 von Albert Einstein. Miliband lebt mit seiner Frau, der Geigerin Louise Shackelton, und den beiden Söhnen in New York.