Herr Annen, als Sie das letzte Mal in den USA waren, wütete noch Donald Trump im Weißen Haus. Nun sind Sie nach einer coronabedingten Reisepause wieder zurück zu Gesprächen mit Parlamentariern und Regierungsvertretern. Was empfinden Sie bei ihrer letzten Dienstreise über den Atlantik?
Niels Annen: Zunächst mal freue ich mich wirklich, wieder hier zu sein. Man kann viel lesen, aber wenn man nicht ab und zu hier selbst Gespräche führt, hat man kein vollständiges Bild von der Stimmung. Außerdem habe ich hier mal gelebt und gearbeitet. Auch deshalb ist es schön zurückzukehren. Aber die Lage ist angespannt, der Präsident ist unter Druck, der Honeymoon scheint vorbei zu sein.
Zu Ihrer Zeit in Washington regierte Barack Obama, und die Tea-Party-Propagandistin Sarah Palin fischte am rechten Rand der Republikaner. Wie haben sich die USA im vergangenen Jahrzehnt verändert?
Annen: Die Gräben sind noch deutlich tiefer geworden. Ich habe seinerzeit den Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die Gesundheitsreform von Barack Obama mitbekommen. Das Ausmaß der Irrationalität hat mich da schon damals schockiert. Aber es gab immerhin noch eine republikanische Partei, die nicht nur aus Palin bestand, sondern nach einem konservativen Weg in der Mitte suchte. Von dieser republikanischen Partei ist leider nicht mehr viel übrig geblieben. Das ist eine bittere Erkenntnis und bedeutet, dass sich bei veränderten politischen Mehrheiten die außenpolitische Grundorientierung verändern kann. Das war in den Jahrzehnten vorher nicht der Fall. Ja, „America is back“. Aber das heißt nicht, dass es nicht ein Zurück zu Donald Trump geben kann. Das müssen wir in unseren Analysen berücksichtigen.
Schon unter Obama war erkennbar, dass Europa nicht mehr im Zentrum der außenpolitischen Interessen der USA steht. Donald Trump ist Europa mit offener Feindschaft begegnet. Joe Biden ist freundlich im Ton, strategisch aber auf den indopazifischen Raum konzentriert. Was bedeutet das für die transatlantischen Beziehungen?
Annen: Wir können nicht ignorieren, dass sich die Gewichte in der Weltpolitik verschieben und sich die ökonomische Dynamik sehr stark im indopazifischen Raum abspielt. Deshalb müssen wir die Chance, die sich mit Joe Biden als einem Präsidenten bietet, der den Wert von Allianzen kennt, für eine enge Abstimmung auch im Indopazifik nutzen. Die Bundesregierung hat mit den Indopazifik-Leitlinien einen neuen Schwerpunkt gesetzt. Das stößt hier auf viel Interesse. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Fahrt der Fregatte Bayern in Washington aufmerksamer verfolgt wird als in Berlin.
Aber eine Fregatte hilft wenig gegen den Bedeutungsverlust Europas.
Annen: Klar ist: Wir in Europa müssen uns stärker um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern. Die vier Jahre Trump und auch die Schwerpunktsetzung von Joe Biden zeigen, dass wir keine Zeit zu verlieren haben.
Aber in Washington haben viele den Eindruck, dass Europa nicht so recht in die Gänge kommt. Ihre eigene Partei, die SPD, hadert immer noch mit dem vereinbarten Zwei-Prozent-Ziel der Nato, sie lehnt bislang eine Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen ab, und Fraktionschef Rolf Mützenich hat sogar die deutsche Teilhabe an der nuklearen Abschreckung der Nato infrage gestellt. Wie soll Europa so mehr Verantwortung übernehmen?
Annen: Nun warten Sie mal ab! Ich glaube, dass das, was in wenigen Tagen in einem Koalitionsvertrag stehen wird, Ihre Frage erübrigen wird.
Das heißt: Die SPD gibt ihren Widerstand gegen bewaffnete Drohnen auf?
Annen: Ich kann und will am heutigen Tag nichts zu Details des Koalitionsvertrages sagen. Aber Olaf Scholz hat deutlich gemacht, dass er für ein hohes Maß an Kontinuität in der Außenpolitik steht. Er hat sich klar zur Nato und zu den Bündnisverpflichtungen bekannt. Diese Botschaft habe ich hier bei meinen Gesprächen mit reinem Gewissen verkündet.
Welche Erwartungen haben Ihre amerikanischen Gesprächspartner denn an die neue Ampel-Regierung geäußert?
Annen: Hier gibt es eine hohe Erwartung, mit einer starken Bundesregierung, die ihre politische und ökonomische Rolle in Europa versteht, eng zusammenzuarbeiten. Dieser Wunsch wird von unserer Seite geteilt. Wir haben aufgrund der aktuellen Entwicklung viel über die Situation in Russland und der Ukraine gesprochen. Ich habe die Gelegenheit genutzt, noch einmal darauf hinzuweisen, was Deutschland seit vielen Jahren für die Demokratie in der Ukraine tut. Das scheint mir manchmal das bestgehütete Geheimnis in Washington zu sein.
Auch unter Joe Biden ist das transatlantische Verhältnis nicht frei von Spannungen. So hat die US-Regierung den Abzug aus Afghanistan ziemlich überraschend und chaotisch durchgeführt. Sind Sie zufrieden mit der Art und Weise, wie die Verbündeten von Washington einbezogen oder besser gesagt: nicht eingebunden wurden?
Annen: Ich bin nicht hierhergekommen, um mich zu beklagen. Es war für uns klar: Wenn die Amerikaner abziehen, dann wird auch die Bundeswehr abziehen müssen. Der Präsident hat diese Entscheidung getroffen. Wir müssen jetzt nach vorne schauen und versuchen, aus dieser schwierigen Situation das Beste zu machen.
Aber die Fehler beim deutschen Abzug waren nicht alleine hausgemacht?
Annen: Es fällt auf, dass alle Regierungen, die sich in Afghanistan engagiert haben und ihre Truppen abziehen mussten, mit den gleichen innenpolitischen Vorwürfen konfrontiert waren. Das spricht dafür, dass nicht nur der deutschen Regierung eine Fehleinschätzung unterlaufen ist.
Ein Dauer-Ärgernis aus amerikanischer Sicht ist umgekehrt die Ostseepipeline Nord Stream 2. Präsident Biden hat die Sanktionen ausgesetzt, doch nun gibt es im Senat angesichts der russischen Truppenmassierung an der ukrainischen Grenze ernste Bestrebungen für einen neuen Anlauf, die Pipeline zu sanktionieren. Wie gefährlich kann das für das Projekt werden?
Annen: Ich bin nicht der Sprecher des Projektes. Ich glaube, das wird in Washington manchmal etwas verzerrt wahrgenommen.
Es geht uns um Ihre politische Einschätzung.
Annen: Meine nüchterne Betrachtung ist: Wir haben Grund zur Sorge über die Entwicklung an der russisch-ukrainischen Grenze. Darüber reden wir mit unseren amerikanischen Partnern, unsere Dienste tauschen sich aus und wir koordinieren unsere Politik. Zum Gesamtbild gehört auch, dass sich die russische Seite bei der Energieversorgung bislang an ihre Verpflichtungen hält. Deshalb rate ich, das Nord-Stream-2-Projekt in dieser Situation nicht weiter zu politisieren. Wir haben eine gute Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten abgeschlossen. Die dort vereinbarten Projekte setzen wir gemeinsam um. Deswegen schwächt die Debatte beide Seiten. Im Übrigen würde in Deutschland im Falle neuerlicher Sanktionen sicherlich die Frage laut werden, welchen Sinn es macht, Vereinbarungen mit der amerikanischen Regierung zu beschließen, wenn vom Kongress danach trotzdem neue Sanktionen beschlossen werden.
Das scheint einflussreiche Republikaner und auch Demokraten im Senat wenig zu stören. Wie könnte sich Deutschland gegen Sanktionen wehren?
Annen: Diese hypothetische Frage will ich nicht beantworten. Ich habe aber den Eindruck, dass es unabhängig von Nord Stream bei den Demokraten wenig Interesse gibt, dem eigenen Präsidenten ein Instrument aus der Hand zu nehmen. Und es gibt ein Argument, das hier in Washington verstanden wird: Die Sanktionen stellen im Kern eine souveräne Entscheidung Deutschlands über seine Energieversorgung infrage. Die Vorstellung, dass umgekehrt Europa eine Richtlinie über die amerikanische Energiesicherheit verabschieden würde, ist absurd. Wir sollten uns darauf konzentrieren, die Demokratie in der Ukraine zu unterstützen, der Ukraine einen konkreten Weg aufzuzeigen, sich unabhängiger zu machen, und das Land so auch näher an die Europäische Union heranzuführen, statt uns selber mit einer unnötigen Debatte über ein abgeschlossenes Pipelineprojekt zu schwächen.
Präsident Biden hat sich mit der Aussetzung der Sanktionen zusätzlichen innenpolitischen Ärger eingehandelt. Insgesamt sehen seine Umfragewerte derzeit nicht gut aus. Gleichzeitig kokettiert Donald Trump offen mit der Möglichkeit einer erneuten Kandidatur. Was würde eine zweite Präsidentschaft des Möchtegern-Autokraten für die USA und die Welt bedeuten?
Annen: Die vier Jahre Trump waren ohne Frage eine Belastung für das transatlantische Verhältnis. Aber ich würde selbstbewusst sagen: Wir haben uns nicht provozieren lassen. Wir haben gezeigt, dass wir in der Lage waren, diese schwierige Beziehung zu managen. Wahr ist: Wir können uns nicht darauf verlassen, dass sich dies nicht wiederholt. Darauf müssen wir uns einstellen. Aber wir wären schlecht beraten, wenn wir uns in innenpolitische Auseinandersetzungen der USA einmischen würden. Die Antwort kann nur sein: Europa muss stärker, einiger und resilienter werden. Das ist am Ende auch im Interesse der Vereinigten Staaten.
Zur Person: Niels Annen, 48, stammt aus Hamburg. Der Politikwissenschaftler war von 2001 bis 2004 Bundesvorsitzender der Jusos. Seit 2018 ist der SPD-Politiker Staatsminister im Auswärtigen Amt bei Außenminister Heiko Maas.