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Interview: Armutsforscher Butterwegge: "Die Politik tut zu wenig gegen Kinderarmut"

Interview

Armutsforscher Butterwegge: "Die Politik tut zu wenig gegen Kinderarmut"

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    Vor allem alleinerziehende Mütter sind armutsgefährdet - und mit ihnen ihre Kinder.
    Vor allem alleinerziehende Mütter sind armutsgefährdet - und mit ihnen ihre Kinder. Foto: Christian Charisius, dpa (Symbolbild)

    Herr Butterwegge, wir reden seit Jahren, nein Jahrzehnten über die ungleichen Chancen, die Kindern in unserem Land geboten werden. Die Politik steuert immer wieder gegen. Eigentlich müsste das Problem doch kleiner werden, oder?

    Christoph Butterwegge: Ich beschäftige mich jetzt genau seit einem Vierteljahrhundert mit dem Problem der Kinderarmut. Damals spielte dieses Thema nur in der Vorweihnachtszeit eine Rolle, wenn man Spenden einwerben wollte. Später änderte sich das insofern, als der

    Das ist doch gut, oder?

    Butterwegge: Die Statistik wurde bereinigt, das Problem selbst aber keineswegs gelöst. Dies zeigen zwei Zahlen: Während auf dem Höhepunkt des sogenannten Wirtschaftswunders im Jahr 1965 nur jedes 75. Kind Sozialhilfe bezog, lebt heute jedes siebte Kind von Hartz IV. Seitdem

    Armutsforscher Christoph Butterwegge. "Kinderarmut basiert auf der Armut von Eltern"

    Warum ist das so?

    Butterwegge: Kinderarmut erweckt Mitleid bei Erwachsenen, denn diese empfinden besonders für Kleinkinder ein hohes Maß an Empathie. Aber Kinderarmut basiert im Grunde immer auf der Armut von Eltern – und da hört das Mitgefühl schon auf. Die seien zu faul zum Arbeiten oder hätten zu hohe Ansprüche, heißt es. Wer die Kinderarmut bekämpfen will, muss aber auch den Niedriglohnsektor eindämmen und den Reichtum antasten – das ginge aber nur gegen massiven Widerstand. Denn zumindest wer sehr reich ist, ist auch politisch einflussreich. Der Einfluss von Lobbygruppen ist zu groß. Wenn keine andere Steuerpolitik gemacht wird, fehlt dem Staat das Geld, das er braucht, um die Armut zu beseitigen oder zu verringern.

    Wenn wir von einer wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft sprechen, geht es dann wirklich nur ums Portemonnaie?

    Butterwegge: In einer Gesellschaft, in der das Geld so wichtig ist wie noch nie und in der das Geld so ungleich verteilt ist wie noch nie, hängt letztlich alles an Einkommen und Vermögen. Nehmen wir die Pandemie: Es macht für ein Kind einen riesigen Unterschied, ob es im eigenen Zimmer spielen und lernen kann, ob es einen Laptop oder ein Notebook hat, ob die Familie einen großen Garten zum Spielen hat. Darüber entscheidet die finanzielle Lage der Familie. Meiner Erfahrung nach geht eine Familie, die wohlhabend ist, ins Theater, in Konzerte, besitzt Bücher, bezahlt Nachhilfestunden und ist bemüht, ihre Kinder zu fördern. Wenn eine Familie Angst hat, am 20. des Monats nichts mehr Warmes auf den Tisch zu bekommen oder dass ihr der Strom abgestellt wird, sieht das anders aus. Dann gibt es eben keinen Musikunterricht für die Kinder. Armut ist kein kulturelles, sondern ein ökonomisches Problem. Armut bekämpft man, indem man den privaten Reichtum umverteilt. Politiker der etablierten Parteien weisen immer wieder darauf hin, dass es nicht nur ums Geld geht. Dies ist gewiss nicht falsch, dient Politikern jedoch als Vorwand, um den privaten Reichtum nicht umverteilen zu müssen.

    Fast 16 Prozent der Menschen in Deutschland gelten als arm

    Welche Gruppen in der Gesellschaft sind am stärksten von Ungleichheit, von Armut betroffen?

    Butterwegge: In Deutschland gelten 15,9 Prozent der Menschen als armutsgefährdet. Für einen Alleinstehenden heißt das in Zahlen ausgedrückt: Er oder sie hat ein monatliches Nettoeinkommen von weniger als 1074 Euro. Arbeitslosigkeit ist natürlich das größte Problem – mehr als 57 Prozent der Arbeitslosen fallen unter diese Armutsgrenze. Bei den Alleinerziehenden sind es über 42 Prozent, bei Menschen mit Migrationshintergrund mehr als 35 Prozent. Das sind jene drei Gruppen, die am stärksten von Armut betroffen sind.

    Wie schwer ist es für Kinder und Jugendliche, die in ärmeren Verhältnissen aufgewachsen sind, irgendwann aufzuschließen an den Mittelbau der Gesellschaft?

    Butterwegge: Dieser Aufstieg ist für Arme während der vergangenen Jahrzehnte noch schwieriger geworden, wie der kürzlich veröffentlichte sechste Armuts- und Reichtumsbericht belegt. Kinder aus einkommensschwachen Familien werden in vielerlei Hinsicht gehindert, sich frei zu entwickeln. Falls sie beispielsweise Zuschüsse für die Teilhabe in Sportvereinen erhalten, sind damit noch lange nicht die Fußballschuhe, das Trikot und der Trainingsanzug bezahlt. Aber es gibt auch mentale Barrieren. Die Öffentlichkeit sucht diese meist bei den Armen, indem sie ihnen unterstellt, selbst dann ungern kulturelle Veranstaltungen zu besuchen, wenn diese kein Geld kosten. Das mag im Einzelfall so sein, weil Bildung und Informationen fehlen. Aber die mentalen Barrieren gibt es auch auf der anderen Seite: Man traut den Armen oft ganz einfach zu wenig zu.

    "Leiharbeit muss verboten werden"

    Was müsste die Politik Ihrer Meinung nach unternehmen, um das Problem der Kinderarmut nachhaltig zu bekämpfen?

    Butterwegge: Wir brauchen ein anderes Bildungssystem, das Kinder nicht schon nach der vierten Klasse trennt und ihren weiteren Lebensweg damit vorzeichnet. In den skandinavischen Ländern etwa werden die Kinder durch das Modell der Gemeinschaftsschulen länger gemeinsam unterrichtet. Noch wichtiger wäre eine materielle Besserstellung der Familien. Das fängt beim Mindestlohn für Eltern an, die arbeiten: Er ist mit 10,60 Euro im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern sehr niedrig. Davon kann man selbst in Vollzeit keine Familie ernähren. Leiharbeit und sachgrundlose Befristungen müssen verboten, Mini- und Midijobs sozialversicherungspflichtig gemacht werden. Nötig wäre auch eine andere Steuerpolitik. Alle Steuern, die Reiche und Hyperreiche zahlen müssen, sind in den vergangenen Jahrzehnten entweder abgeschafft worden wie die Börsenumsatzsteuer oder die Gewerbekapitalsteuer, wurden einfach nicht mehr erhoben wie die Vermögensteuer oder zumindest gesenkt wie der Spitzensteuersatz in der Einkommen-, die Kapitalertrag- und die Erbschaftsteuer für Firmenerben. Hätten wir noch dasselbe Steuerniveau wie unter Helmut Kohl, würde der Staat pro Jahr über 100 Milliarden Euro mehr einnehmen – und Kohl war nun gewiss kein Kommunist. Mit den zusätzlichen Einnahmen könnte man etwa das Lehrpersonal an den Schulen aufstocken. Während der Pandemie hat sich gezeigt: Gäbe es mehr Lehrer, hätten sie in kleineren Klassen den Präsenzunterricht aufrechterhalten können.

    Steuern sind im Wahlkampf ein schwieriges Thema ...

    Butterwegge: Ich glaube, dass viele Angehörige der Mittelschicht wie ich bereit wären, höhere Steuern zu zahlen, wenn dafür endlich das Problem der Armut vor allem bei Kindern angegangen würde. Das ist teilweise geradezu grotesk: Wenn die führende Regierungspartei in den Wahlkampf zieht mit dem Versprechen, dass die Unternehmenssteuern gesenkt werden sollen, frage ich mich, wie die Herausforderungen der Pandemie, des Klimawandels und der Ungleichheit gestemmt werden sollen. Reiche und sehr Wohlhabende müssen finanziell stärker belastet werden, wenn der soziale Zusammenhalt nicht schwinden soll. Das sind wir der jungen Generation schuldig.

    Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge.
    Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge. Foto: Federico Gambarini, dpa

    Zur Person: Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. Er war 2017 Kandidat der Linkspartei für das Amt des Bundespräsidenten. Am 18. August erscheint das von ihm und seiner Frau Carolin Butterwegge geschriebene Buch „Kinder der Ungleichheit“ bei Campus.

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