Herr Lambsdorff, Ihr Buch „Wenn Elefanten kämpfen – Deutschlands Rolle in den kalten Kriegen des 21. Jahrhunderts“ (Propyläen) ist geprägt von der Sorge, dass Europa im Begriff ist, zu verspielen, was es ausmacht. Seit wann beschäftigt Sie das?
Alexander Graf Lambsdorff: Ich habe mich schon früh mit den Strukturen des Rechtsextremismus im Europa der 1920er Jahren beschäftigt. Da ging es um das Scheitern der Weimarer Republik und die Verführbarkeit von Teilen des Bürgertums durch faschistische Parolen. Wenn ich heute sehe, dass Parteien am rechten Rand in Europa Erfolge bei Wahlen erzielen, erfüllt mich das mit großer Sorge.
Sie beschwören als Reaktion darauf einen „European Way of Life“. Doch es fällt derzeit schwer zu erkennen, worauf dieses gemeinsame europäische Lebensgefühl beruhen könnte.
Lambsdorff: Ich glaube, dass viele Europäer im Bauch spüren, was das ist. Es geht um Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, aber auch um Kultur, sozialen Ausgleich und Umweltschutz. Also ein Gefühl, dass auf gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Lebensart basiert. Ich wollte mit meinem Buch ins Bewusstsein rücken, dass der European Way of Life etwas ganz Besonderes ist und wir diese Lebensart an die kommende Generation weitergeben sollten.
Haben Sie nicht den Eindruck, dass diese Werte heute in der EU manchmal einen schweren Stand haben?
Lambsdorff: Ich bin mit der europäischen Politik in der Tat nicht zufrieden. Bei Themen wie der Währungspolitik, der Migrations- oder Außenpolitik sind nationale Egoismen auf dem Vormarsch. Meine Sorge ist, dass wir die Europäische Union nur als Hülle behalten, dass viele die EU nur noch als Mechanismus zu Koordination von Krisen verstehen. Wir brauchen aber den Geist der Gemeinsamkeit, für den Leute wie Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher oder Giscard d’Estaing standen.
Europa ist insofern einmalig, als dass es auf relativ kleinem Raum komprimiert viel Geschichte und steinerne Zeugen einer viele Jahrhunderte alten Kultur zu bieten hat. Warum geht uns der Stolz auf dieses Erbe oft ab?
Lambsdorff: Stolz muss man das ja gar nicht nennen. Es geht um Zuneigung zur eigenen Lebensumwelt, zu deren von uns geformter Einzigartigkeit. Und zwar ohne sich anderen gegenüber zu erhöhen. Ich glaube, dass diese Zuneigung nach dem Kalten Krieg verloren gegangen ist. Die Menschen in Riga, in Budapest oder Krakau haben sich jahrzehntelang nach Freiheit gesehnt, während wir das Glück hatten, in Brüssel, Bonn und Barcelona zu leben, wie es uns gefiel. Wir nahmen das als selbstverständlich hin, aber das ist falsch. Wir sollten den Kopf heben, um zu sehen, dass wir von Entwicklungen abhängig sind, die außerhalb von Europa passieren. Wir müssen einen Bogen schlagen vom rein europäischen ins globale Denken.
Ihr Buch ist ja auch eine Aufforderung, die aggressive Politik Chinas zurückzuweisen. In Deutschland hat man allerdings eher den Eindruck, dass alles unterlassen wird, was den Handelspartner verärgern könnte.
Lambsdorff: Wir haben nach der Abwahl von Trump eine historische Chance – Joe Biden. Bei ihm dürfen wir nicht denselben Fehler machen wie bei Emmanuel Macron. Nachdem er Marine Le Pen bei den französischen Präsidentschaftswahlen geschlagen hatte, hat Deutschland die Möglichkeit verpasst, gemeinsam mit ihm neue Ideen für Europa zu entwickeln. Ich habe die große Befürchtung, dass die Kanzlerin, dass die Bundesregierung dies gerade gegenüber Biden wieder tut. Wer Frau Merkel reden hört, merkt, dass es ihr darum geht, China auf keinen Fall zu verärgern und eine gleiche Entfernung zwischen Washington und Peking zu halten.
Welche Akzente würden Sie gegenüber China setzen?
Lambsdorff: Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass China eine Vision hat, die auf Dominanz und Unterordnung hinausläuft. Das kollidiert mit unserem Verständnis von einer freiheitlichen, auf dem Völkerrecht basierenden multilateralen Weltordnung. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass China nach wie vor eine kommunistisch-maoistische Diktatur ist, in der schwerste Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Ich glaube, dass wir – bei allen Unterschieden – aufgrund unserer Werte und zu unserem eigenen Glück fest in der EU und im westlichen Bündnis verankert sein müssen.
"Hüterin der europäischen Verträge": Das sind die Aufgaben der EU-Kommission
Die EU-Kommission Die EU-Kommission ist eine Art Kabinett mit jeweils einem Vertreter aus jedem Mitgliedstaat, derzeit also 27.
Sie schlägt Gesetze vor und überwacht deren Einhaltung in den Mitgliedstaaten.
Der Kommissionschef repräsentiert zusammen mit anderen Spitzen die EU. Für die Kommission gibt er die politische Linie vor.
Die Kommissare sind wie ein Kabinett mit verschiedenen Themengebieten.
Die Kommission legt Entwürfe für Richtlinien und Verordnungen vor, die dann vom EU-Parlament und vom Rat der Mitgliedsländer beraten werden.
Sie überwacht zudem die Einhaltung von EU-Recht – sie ist sozusagen die Hüterin der europäischen Verträge.
Der Sitz der Europäischen Kommission ist in Brüssel.
Die Kommissionspräsidentin verdient rund 25 500 Euro monatlich plus Zulagen.
Was ist mit unseren wirtschaftlichen Interessen als Exportnation?
Lambsdorff: Wir müssen unserer Wirtschaft sagen: Ihr braucht eine Asien-Strategie, die über China hinausblickt. Das ist keine Aufforderung zum Rückzug aus China, aber Asien ist viel größer, mit vielen interessanten Märkten. Das Risiko im Falle eines verschärften Konflikts zwischen den USA und China - und dieser Konflikt wird kommen - würde sich für unsere Volkswirtschaft vermindern, wenn wir nicht alles auf ein Pferd setzen.
Ein anderer Fall ist Russland. Der Staat geht rücksichtslos gegen Oppositionspolitiker vor, fährt Cyberangriffe gegen westliche Staaten. Dennoch kann Präsident Wladimir Putin sich auf eine treue deutsche Fangemeinde verlassen. Wie ist das zu erklären?
Lambsdorff: Bei Russland schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Ich mag Russland und die Russen. Es gibt viele Verbindungen meiner Familie dorthin. Aber Putin ist fest entschlossen, die Ergebnisse des Kalten Krieges mit Gewalt zu verändern. Das führt nach innen zur Unterdrückung der Demokratie und nach außen zu Angriffen auf andere Länder. Diese Trennung ist wichtig: Man kann ein Russland-Versteher sein, ohne ein Putin-Versteher werden zu müssen. Wir als FDP sind zusammen mit den Grünen die Partei, die diese Unterscheidung am klarsten macht. Auch aus der CDU ist die Kritik an Moskau inzwischen deutlicher geworden. Dagegen fällt die CSU ab, wenn ich sehe, wie kritiklos Herr Stoiber für Nordstream 2 wirbt oder Markus Söder nach Russland fährt, obwohl gerade Sanktionen verhängt worden sind.
Wir haben in den letzten vier Jahren erlebt, dass sich der „Große Bruder“ USA in einen unberechenbaren, ja feindseligen Rüpel verwandelt hat. Was folgt daraus für uns?
Lambsdorff: Die letzten vier Jahre in den USA müssen uns eine Lektion sein. Demokratie ist verwundbar. Aus Worten können Taten werden. Aus Hassparolen kann Mord werden. Auch wir müssen uns fragen, wie wir unsere Demokratie verbessern können. In den USA hat man gesehen, was passieren kann, wenn die Gesellschaft gleichsam in einer Soße aus Lügen mariniert wird. Das Land und seine politische Kultur werden vergiftet.
Droht diese Gefahr auch in Deutschland?
Lambsdorff: Auch unsere Demokratie ist zerbrechlich. Deswegen müssen alle Demokraten sehr klar und hart schon den kleinen Lügen insbesondere der AfD entgegentreten. Nationalismus führt dazu, dass eine Gruppe sich herausnimmt, zu definieren, wer zum Volk gehört und wer nicht. Wer dann ausgegrenzt wird, wird zum Menschen zweiter Klasse erklärt. Es reicht ein kurzer Blick in die deutsche Geschichte, um zu erkennen, wohin so etwas führen kann.
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