Deutschlands Intensivmediziner schlagen trotz sinkender Infektionszahlen Alarm und warnen vor einem Kollaps des Gesundheitssystems, sollte es zu einer dritten Pandemiewelle durch hochansteckende Mutationen des Coronavirus kommen. „Wir spüren auf den Intensivstationen, anders als die Zahlen den Anschein erwecken, derzeit keine Entspannung, die Lage ist nach wie vor sehr angespannt“, sagte das Präsidiumsmitglied der Deutschen Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin DIVI, Felix Walcher, unserer Redaktion.
„Wenn wir so weitermachen, werden wir in absehbarer Zeit einen so dramatischen Personalmangel auf den Intensivstationen bekommen, dass wir weder den Normalbetrieb stemmen können geschweige denn eine mögliche dritte Welle“, betonte er. „Wir dürfen unser Gesundheitssystem nicht an die Wand fahren“, warnte der Magdeburger Uniklinikums-Professor.
Burnout-Fälle unter dem Pflegepersonal auf Corona-Stationen
„Das Pflegepersonal ist maximal belastet, die Menschen können einfach nicht mehr“, sagte Walcher. „Sehr viele sind ausgebrannt, es gibt schon jetzt sehr viele Burnout-Fälle und Rückzugserscheinungen. Wir Intensivmediziner haben Angst, dass in den kommenden Monaten viele das Handtuch werfen.“ Das Pflegepersonal brauche echten Schutz vor Burnout und benötige Zukunftsperspektiven.
"Dabei geht es nicht nur um mehr Personal und Geld, wir brauchen echten Schutz vor Burnout und deutlichere Zukunftsperspektiven, sonst werden uns diese Mitarbeiter in einigen Wochen oder Monaten der Intensivmedizin den Rücken kehren, weil sie nicht mehr können“, warnte der Notfallmediziner. Walcher kritisierte, „dass diese sehr reale Bedrohung für unser Gesundheitssystem von der Politik überhaupt noch nicht wahrgenommen wird.“
Kliniken arbeiten fast ununterbrochen am absoluten Limit
Die deutschen Intensivstationen würden bereits seit Beginn der ersten Welle fast ununterbrochen am absoluten Limit arbeiten. Anders als in vielen anderen Bereichen habe es dort auch im Sommer trotz Abflachen der Pandemiewelle keine Entspannung gegeben: „Während die Politik über Lockerungen diskutiert hat und die Bevölkerung sich fast schon wieder in normalen Zeiten wähnte, gab es kaum eine Verschnaufpause, weil die Kliniken die während der ersten Pandemiewelle verschobenen Operationen nachholen mussten“, sagte der Direktor der Klinik für Unfallchirurgie des Universitätsklinikums Magdeburg.
In der öffentlichen Diskussion spiele inzwischen kaum noch eine Rolle, unter welcher enormen Belastung das Pflegepersonal, aber auch viele Ärzte in den Intensivstationen stünden. „Man arbeitet nicht nur unter Vollschutz fast ohne Pausen, um Schwerstkranke zu betreuen, sondern ist in weit größerem Umfang als sonst damit konfrontiert, extrem kranke aber auch sterbende Patienten zu begleiten“, sagte der Notfallmediziner. „Statt im Verlauf der Therapie zunehmend gesündere Patienten, erleben wir seit Monaten eine Zunahme der Schwerkranken“, berichtet er.
„Weder die Bevölkerung noch die Politik haben derzeit auf dem Schirm, was diese Entwicklung für unsere Mitarbeiter bedeutet“, ergänzte Walcher. „Gerade auf den Covid-Stationen befürchten wir Intensivmediziner, dass unsere Mitarbeiter bald schlicht nicht mehr können, wenn wir sie nicht endlich mehr unterstützen und wertschätzen.“
Intensivmedizinervereinigung DIVI fordert harten Lockdown
Die Intensivmediziner-Vereinigung spricht sich seit Wochen für einen konsequenten Lockdown aus, bis die Infektionsketten von den Gesundheitsämtern kontrollierbar seien. "Wir müssen in einen harten Lockdown gehen, alles andere ist ethisch schwer vertretbar“, sagte DIVI-Präsidiumsmitglied Walcher. „Unsere größte Sorge ist, dass durch die Impfungen und Lockerungsdiskussionen der Eindruck erweckt wird, die Krise sei bald überwunden, und die Vorsicht der Bürger, sich an die notwendigen Maßnahmen zu halten, nachlässt. Wenn das passieren sollte, dann werden wir eine dritte Welle mit Virusmutationen erleben, deren Folgen unabsehbar sind.“
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