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Indigene: Missbrauch in kanadischen Missionsschulen: Sie nannten ihn Nummer 47

Indigene

Missbrauch in kanadischen Missionsschulen: Sie nannten ihn Nummer 47

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    „Ich fragte mich: Warum lebe ich noch?“, sagt Häuptling Dominique Rankin. Und dann erzählt er seine Geschichte.
    „Ich fragte mich: Warum lebe ich noch?“, sagt Häuptling Dominique Rankin. Und dann erzählt er seine Geschichte. Foto: Christian Thiel

    Als sie im Frühjahr das erste Massengrab voller Kinderleichen fanden, verstummte Häuptling Dominique Rankin. "Ich konnte nicht mehr singen, meine Trommel nicht anrühren. Die schlimmen Träume kamen zurück", sagt er. "Ich war wie sie."

    Dominique Rankin war ein "gestohlenes" Kind. Mit acht Jahren wurde er seinen Eltern entrissen und auf eine katholische Missionsschule im Osten Kanadas gebracht. Dort erlebte er täglich, was Hölle bedeutet. Er wurde misshandelt, psychisch und physisch, wurde von Priestern und Nonnen sexuell missbraucht. Heute, 60 Jahre später, gehören Christen zu seinen Verbündeten. Seine Geschichte erzählt er auch in einem Buch.

    Es war ein Spätsommermorgen wie viele andere. Ich erinnere mich noch genau, wie plötzlich ein Offizier der Royal Canadian Mounted Police und ein Mann von der Behörde für indianische Angelegenheiten wie aus dem Nichts erschienen. "Mr. und Mrs. Rankin, wir haben den Auftrag, sechs Ihrer Kinder in das neue Internat Saint-Marc-de-Figuery zu bringen. Wenn Sie sich weigern, verstoßen Sie gegen das Gesetz." Unsere Tränen und unsere Versuche, zu fliehen, halfen nichts. An diesem Morgen wurde meinen Eltern das Kostbarste geraubt, was sie noch hatten: ihre Kinder.

    "They Called Us Savages" ("Sie nannten uns Wilde") heißt die Autobiografie, die Dominique Rankin mit seiner Frau, der kanadischen Journalistin Marie-Josée Tardif, geschrieben hat. Vergangenes Jahr erschien die englische Übersetzung. Darin verarbeitet Rankin eine Vergangenheit, von der er glaubte, dass sie längst hinter ihm liege.

    Blick auf die Kamloops Indian Residential School, ein ehemaliges Internat für Indigene. Hier war ein Massengrab mit Überresten von 215 Kindern entdeckt worden.
    Blick auf die Kamloops Indian Residential School, ein ehemaliges Internat für Indigene. Hier war ein Massengrab mit Überresten von 215 Kindern entdeckt worden. Foto: Jonathan Hayward, The Canadian Press via ZUMA, dpa

    Doch als im Mai diesen Jahres auf dem Gelände einer Internatsschule in der kanadischen Stadt Kamloops ein Massengrab mit den Überresten von 215 Kinderleichen entdeckt wurde, holte sie ihn wieder ein. Die Erinnerungen an das, was er selbst in den 1950er Jahren in einer Missionsschule in der Provinz Quebec erlebte, kamen zurück.

    "Ich habe die Kontrolle verloren, ich war sehr wütend. Es ging mir so schlecht, dass ich kaum laufen konnte. Ich fühlte mich, als wäre ich wieder acht Jahre alt", sagt Rankin, der heute 74 Jahre alt ist. "Ich dachte wieder an all die Leute, an die Ordensmänner und Nonnen, die mich vergewaltigt haben." Auch an seiner Schule seien damals Kinder verschwunden. "Ich fragte mich: Warum lebe ich noch?"

    "Männer ziehen mich aus, setzen mich nackt auf einen Stuhl und rasieren meinen Kopf. Ich breche in Tränen aus"

    Zwischen 1830 und 1998 wurden etwa 150.000 indigene Kinder von ihren Familien getrennt und in Missionsschulen gesteckt. Um die 140 solcher Einrichtungen gab es, sie wurden häufig von Kirchen im Auftrag der kanadischen Regierung betrieben, die meisten waren katholisch geführt. Viele der Kinder an diesen Schulen wurden Opfer von Misshandlungen und sexueller Gewalt.

    Zusammengepfercht sitzen wir im Bus, unterwegs ins Unbekannte. Wir haben Panik, wir weinen. Irgendwann halten wir vor einem großen Gebäude. Wir werden von den Mädchen getrennt, Ordensschwestern des heiligen Franziskus von Assisi bringen sie weg.

    Männer ziehen mich aus, setzen mich nackt auf einen Stuhl und rasieren meinen Kopf. Ich breche in Tränen aus, denn die Worte meines Vaters hallen wider in meinem Kopf und in meinem Herzen: "Dein langes Haar gibt dir Lebensenergie. Es verbindet dich mit Mutter Erde." Die Missionare befehlen mir, meine Haarbüschel einzusammeln und in einen Sack zu stopfen. Meine Mokassins und Kleider ebenfalls. Die Männer in Schwarz führen mich und die anderen Kinder in den Hof hinter dem Haus. Dort lodert ein Feuer in einer Tonne. Einer nach dem anderen werden wir gezwungen, unsere Säcke in die Flammen zu werfen. Ich muss dabei zusehen, wie die Kleider, die meine Mutter so liebevoll für mich gemacht hat, verbrennen.

    Ich werde zu den Duschen geführt. Kleine Jungen kommen mir entgegen, das Entsetzen steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Tränen rollen ihnen über die Wangen, und ich werde schon bald herausfinden, warum. Drei Männer Gottes erwarten uns in den Duschen, auch sie sind komplett nackt. Unter dem Vorwand, uns zu waschen, befriedigen sie ihre kranken Gelüste.

    Erst viel später habe ich erfahren, dass meinen Schwestern das Gleiche passiert ist.

    2008, zehn Jahre, nachdem die letzte Missionsschule geschlossen wurde, entschuldigte sich die kanadische Regierung für das System, unter dem 150 Jahre lang Generationen von Ureinwohnern gelitten hatten. Eine vom Parlament eingesetzte Kommission bezeichnete die brutale Assimilierungspolitik 2015 als kulturellen Genozid.

    "Die offizielle Entschuldigung der Regierung hat alles verändert. Es war, als würde ein Damm brechen", erinnert sich Marie-Josée Tardif, "plötzlich wurde über das, was den Kindern angetan wurde, gesprochen." Dominique Rankin und Marie-Josée Tardif begannen ihr Buch zu schreiben. "Es war klar, dass ich das nicht allein tun kann. Ich brauchte die Sprache einer Frau: sanft und einfach", sagt er. "Die Arbeit daran war für mich wie eine Therapie." Immer wieder sei er nachts schreiend aufgewacht, erzählt sie.

    Premierminister Justin Trudeau besuchte ein Gräberfeld.
    Premierminister Justin Trudeau besuchte ein Gräberfeld. Foto: Liam Richards, dpa

    Erst jetzt ist klar, wie viele Kinder über die Jahrzehnte in den Missionsschulen starben. Nach den schrecklichen Funden von Kamloops jagte eine Schlagzeile die nächste. In ganz Kanada wurden unmarkierte Massengräber bei ehemaligen Internaten entdeckt, Schätzungen gehen mittlerweile von 6000 vergrabenen Kinderleichen aus. Premierminister Justin Trudeau sprach von einer Tragödie, die das ganze Land erschüttere.

    Es ist erst das zweite Mal seit den Kindergräber-Funden, dass seine Frau und der Häuptling mit einer Journalistin sprechen

    Auf Dominique Rankin prasselten den ganzen Sommer über Anfragen von Journalistinnen und Journalisten ein. Er lehnte alle ab. "Je ne pouvais pas", sagt der Häuptling mit ruhiger Stimme auf Französisch. "Ich konnte nicht." Es ist erst das zweite Mal seit den Funden, dass seine Frau und er mit einer Journalistin sprechen. Marie-Josée Tardif, die in der Videoschalte zwischen Lindau und Quebec auf Englisch übersetzt, bricht immer wieder die Stimme. Sie atmet tief durch. Die vergangenen Monate waren hart.

    Dominique Rankin und ein Kongress in Lindau

    Der Häuptling und Medizinmann Dominique Rankin wurde im Osten Kanadas als Sohn einer Nomadenfamilie geboren, die von der Regierung zur Sesshaftigkeit in einem Reservat gezwungen wurde. Er ist einer der letzten "Hereditary Chiefs", das bedeutet, dass er seinen Rang vererbt bekam. Als er sieben Jahre alt war, wurde er in seine Aufgabe eingeweiht.

    Rankin ist einer der angesehensten Vertreter der sogenannten First Nations, der Ureinwohner Kanadas. Sie werden auch Algonquin genannt. "Diesen Namen haben uns Weiße gegeben", sagt er und bezeichnet sich selbst lieber als Anicinapek, was in seiner Sprache "Mensch" bedeutet.

    Seit 2015 ist Rankin Mitglied im Weltbund Religions for Peace, einer Nichtregierungsorganisation, die an die Vereinten Nationen angegliedert ist. Die Mitglieder halten seit 2019 regelmäßig Konferenzen in Lindau am Bodensee ab, so auch gerade wieder seit Montag und noch bis Donnerstag im Rahmen der hochkarätig besetzten Konferenz "Generations in Dialogue" – organisiert von Religions for Peace und der Lindauer Stiftung Friedensdialog der Weltreligionen und Zivilgesellschaft.

    Am Dienstag, 5. Oktober, werden Rankin und seine Frau Marie-Josée Tardif in der Lindauer Inselhalle zum ersten Mal seit den Funden der Kinderleichen öffentlich über ihr Buch "They Called Us Savages" (Vidacom Publications) – "Sie nannten uns Wilde" – sprechen. Das Gespräch wird ab 12.30 Uhr unter www.gid2021.ringforpeace.org live übertragen. Am Abend sind sie ab 18 Uhr zudem bei einer Zeremonie am hölzernen Friedenssymbol "Ring for Peace" im Lindauer Luitpoldpark.

    Die beiden setzen sich seit vielen Jahren für die Rechte der indigenen Bevölkerung Kanadas ein. Mehr Informationen dazu gibt es auf der Internetseite www.dominiquerankinfoundation.com.

    Sechs Jahre verbrachte Dominique Rankin als Kind in der Missionsschule. "In diesen Jahren wurden wir nicht als Kinder betrachtet. Nicht mal als Tiere. Wir waren Spielzeug." Sogar seine Sprache, die Sprache der nordamerikanischen Ureinwohner, hätten die Geistlichen ihm genommen. Sie war verboten. "Sie wollten uns unsere Wurzeln nehmen, uns von unseren Vorfahren trennen." Teil des Umerziehungsprogramms war es, den Kindern Französisch beizubringen. Wer sich widersetzte, dem wurde der Mund mit Seife ausgewaschen. "Aber die Männer und Frauen in Schwarz sprachen eine Sprache, die wir nicht kannten. Wir verstanden nichts."

    Sie teilten uns eine Nummer zu. All unsere Kleider, all unsere Schulsachen trugen diese Nummer: Unsere Schreibtische, unsere Betten, unsere Bettwäsche, unsere Stifte und unsere Hefte, ja selbst die Radiergummis. Nicht zu vergessen – wir selbst. Aus einem Grund, den ich bis heute nicht begreifen kann, haben die Missionare uns lieber mit Nummern benannt als mit unseren eigentlichen Namen. Dabei waren es doch ihre Gleichgesinnten, die uns zuvor getauft und uns christliche Namen verpasst hatten! Ich schätze, sie verteilten die Nummern aus praktischen Gründen. Meine war 47.

    Als Kind habe er versucht, seinen Eltern vom Missbrauch in der Schule zu erzählen. Doch sie glaubten ihm nicht. "In unserer Sprache gibt es das Wort Vergewaltigung nicht." Irgendwann wurde aus Dominique Rankin ein wütender und aufmüpfiger Jugendlicher, der mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Mit 14 kam er auf eine öffentliche Schule. "Es gab niemanden, der uns geholfen hat, keine Programme, nichts."

    Am Ende sei es seine Mutter gewesen, die ihn gerettet habe, erzählt Rankin

    Er begann zu trinken. "Ich habe mich hinter der Bierflasche versteckt, denn ich habe mich geschämt. Ich hatte Angst, für das, was geschehen war, verurteilt zu werden", sagt Rankin heute. Immer wieder habe er verzweifelt nach Hilfe gesucht. Zuerst bei Psychologen, dann bei den Anonymen Alkoholikern. "Doch sie verlangten von mir, dass ich sage: ,Ich bin Dominique Rankin und ich bin Alkoholiker.‘ Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht schon wieder verurteilt werden."

    Am Ende sei es seine Mutter gewesen, die ihn gerettet habe. "Ich saß betrunken auf dem Boden und hatte meinen Blick gesenkt. Da sah ich ihre Mokassins. Und sie sagte: ,Komm nach Hause.‘" Im Kreis der Ältesten begann er zu heilen. "Ich habe erkannt, dass alles, was ich dazu brauchte, in mir war. Aber ich musste erst wieder lernen, mich selbst zu lieben."

    Leider verfielen viele, die von den Erinnerungen an die Internate heimgesucht wurden, Alkohol und Drogen. Viel zu oft endete ihr Elend im Selbstmord. Meine Familie und ich mussten mit dem tragischen Tod meines Bruders Willy zurechtkommen. Auch er war dem Alkohol verfallen. Eines Tages fand man ihn leblos im Straßengraben.

    Nach den Funden der Massengräber von Kamloops und all den anderen Städten brannten in diesem Sommer in Kanada Kirchen. Dominique Rankin und seine Frau zogen sich zurück. Doch jetzt will er nicht mehr schweigen. In der Lindauer Inselhalle wird er zum ersten Mal wieder öffentlich über seine Vergangenheit sprechen – bei einem Treffen der Nichtregierungsorganisation Religions for Peace, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, alle Glaubensgemeinschaften der Welt in Frieden miteinander zu verbinden. Seit 2015 ist Häuptling Rankin dort Mitglied, mittlerweile sogar einer der Co-Präsidenten.

    Der "Weltrat der Religionsführerinnen und Religionsführer" besteht aus 61 Mitgliedern und stellt das wichtigste Entscheidungsorgan von Religions for Peace dar. Dominique Rankin ist einer der Co-Präsidenten.
    Der "Weltrat der Religionsführerinnen und Religionsführer" besteht aus 61 Mitgliedern und stellt das wichtigste Entscheidungsorgan von Religions for Peace dar. Dominique Rankin ist einer der Co-Präsidenten. Foto: Karl-Josef Hildenbrand, dpa

    Doch wie kommt ausgerechnet er dazu, Seite an Seite mit Nonnen und Priestern zu arbeiten? Er hat verziehen. "Ich habe gelernt, dass es nichts bringt, zu verurteilen. Die Menschen, die uns das angetan haben, waren krank. Bei Religions for Peace habe ich viele gute Menschen, viele gute Christen kennengelernt." Die Arbeit dort sei seine Mission. "Wir haben so viel verloren – und genau darum gibt es so viel, was ich dort einbringen kann", sagt er.

    Als die Kinderleichen gefunden wurden, haben ihm seine Freunde bei Religions for Peace geholfen

    Doch manchmal gerät er an Grenzen. "Vor ein paar Jahren waren wir im Vatikan. Damals war ich sicher, ich sei geheilt. Doch dann sah ich all diese Männer in ihren schwarzen Roben, die es bei uns in Kanada nicht mehr gibt. Plötzlich war da eine Mauer. Ich konnte nicht mehr weitergehen. Alle Erinnerungen kamen zurück. Aber wer hatte diese Mauer errichtet? Ich war es selbst. Also sagte ich mir: Geh da durch und du wirst es schaffen. Und ich lief hinein."

    Als die Kinderleichen gefunden wurden, haben ihm seine Freunde bei Religions for Peace geholfen. "Sie waren da, als ich gelitten habe. Gemeinsam haben wir eine Erklärung verfasst, die wir um die ganze Welt geschickt haben." Manche Priester und Kardinäle hätten darauf bereits reagiert, andere nicht. "Ich weiß, dass unser Brief beim Papst angekommen ist. Er hat uns für Dezember in den Vatikan eingeladen, aber es ist wichtig, dass er nach Kanada kommt. Und ich weiß, dass er irgendwann kommen wird."

    Mittlerweile, sagt Häuptling Dominique Rankin, sei er froh, dass die Kinder gefunden wurden. "Sie brachten die Wahrheit ans Licht über das, was in den Schulen passiert ist. Und sie gaben mir eine Antwort auf die Frage, wo all die verschwundenen Kinder geblieben sind." Zu ihren Ehren hat er eine große Zeremonie abgehalten. "Sie sind bei mir. Sie sind wie meine kleinen Krieger, die mich festhalten und mir den Rücken stärken."

    "Jedes Kind zählt", steht auf seinem T-Shirt

    Er drückt seine Brust durch, die Aufschrift seines orangefarbenen T-Shirts wird im Bildschirm während der Videoschalte sichtbar. "Chaque enfant compte", steht da. Jedes Kind zählt.

    In Wirklichkeit existiert der Tod nur an einem Ort: in der irrigen Vorstellung des menschlichen Geists. Aus Angst zu verschwinden will der Mensch alles kontrollieren. Hab keine Angst davor, zu verschwinden. Wenn du diese Angst überwunden hast, wirst du merken, dass du lebst – und dann kannst du nicht mehr verschwinden. Lass uns gemeinsam frei werden und die Unendlichkeit streifen.

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