Als der Test ergab, dass Ravi Corona hat, rannte der Tagelöhner davon und verschwand in den engen Gassen des Slums Lalbagh in der indischen Megastadt Delhi. Der 38-Jährige wollte sich nicht in eines der Quarantäne-Zentren des dicht besiedelten Slums begeben. Mindestens 14 Tage hätte der alleinige Ernährer seiner Familie dort festgesessen, ohne eine einzige Rupie verdienen zu können. Zu Hause hätte er sich nicht isolieren können, schließlich wohnt er mit seiner Frau und den vier Kindern in einer engen Hütte mit nur einem Raum und hätte so wahrscheinlich auch seine Familie angesteckt.
Niemand weiß, wie viele Menschen Ravi infiziert hat, bevor er sich ein paar Tage später doch den Behörden stellte. Er hätte nicht fliehen dürfen, und deshalb steht hier auch nicht sein echter Name. Doch Verzweifelte wie Ravi sind einer der Gründe, warum die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Indien seit Ende März explodiert. Die Statistiken erreichen jeden Tag neue, angsteinflößende Höhen.
Binnen 24 Stunden meldete das indische Gesundheitsministerium am Sonntag 349.691 neue Fälle. Nie zuvor haben sich in einer Nation so viele Menschen an einem Tag mit dem Virus angesteckt. 2767 Menschen starben innerhalb von 24 Stunden an oder mit Covid-19. Noch ein trauriger indischer Tagesrekord. Und da in der größten Demokratie der Welt nach wie vor wenig getestet wird, dürfte die tatsächliche Zahl der Infizierten noch viel höher liegen. Mit insgesamt rund 16,9 Millionen Erkrankten ist Indien nach Angaben der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität mittlerweile nach den USA das Land mit den meisten Infizierten. Es fehlt an Betten, antiviralen Medikamenten und medizinischem Sauerstoff. Und die neue Virusvariante B.1.617, umgangssprachlich schon als „indische Mutante“ bekannt, macht alles noch schlimmer.
Bundesregierung erklärt Indien zum Virusvariantengebiet
In Deutschland hat sich die indische Virusvariante bislang noch kaum ausgebreitet. Bis zum Wochenende wurden knapp zwei Dutzend Fälle nachgewiesen. Damit es nicht mehr werden, ernennt die Bundesregierung Indien ab diesem Montag zum Virusvariantengebiet. Dann gelten noch strengere Einreiseregeln als beim Status eines Hochrisikogebiets. Konkret: ein weitgehendes Einreiseverbot für Menschen, die sich zuvor in Indien aufgehalten haben. Deutsche und Ausländer mit Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik dürfen zwar weiter einreisen, müssen allerdings schon beim Abflug von einem indischen Flughafen einen negativen Corona-Test vorweisen und sich in Quarantäne begeben, sobald sie in Deutschland gelandet sind.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat Indien Hilfe angeboten. „Wir bereiten so schnell wie möglich eine Unterstützungsmission vor“, sagte sie am Wochenende. Aus Brüssel hieß es, dass die EU bei der Versorgung mit Sauerstoff und Medikamenten helfen werde. Sogar der politische Erzfeind Pakistan offeriert Beatmungsgeräte, Röntgengeräte und Schutzkleidung. Indien selbst hat aufgrund der katastrophalen Zahlen jetzt den Export von Corona-Impfstoff gestoppt. Vor allem AstraZeneca produziert hier. Impfkampagnen in aller Welt könnten so ins Stocken geraten.
Ab Juni 2020 wurde der strikte Lockdown in Indien schrittweise gelockert
Die ehrenamtliche Helferin Shiv Kumari sieht jeden Tag in den Straßen des Slums Lalbagh, wie rasend schnell Corona die Menschen befällt. Tagelang war sie auf der Suche nach dem positiv getesteten Ravi. Als staatliche Gesundheitshelferin, die freiwillig für die Organisation World Vision arbeitet, will sie helfen, die heftige zweite Welle im Slum, in dem sie aufwuchs, zu brechen. Sie berichtet, dass viele Krankenhäuser in der Nähe des Slums bereits an ihre Grenzen stoßen und Corona-Patienten abweisen. Zuletzt gab es alleine in der indischen Hauptstadt mehr als 17.000 Neuinfektionen pro Tag, unter den Erkrankten sind auch immer mehr Kinder, einige Krematorien mussten zusätzliche Öfen in Betrieb nehmen.
Damit Infizierte ihre Sauerstoffsättigung im Blut selbst überprüfen können, verteilt die Gesundheitshelferin deshalb jetzt an Erkrankte Sauerstoffmessgeräte, die die indische Regierung kostenlos zur Verfügung stellt. „Auch wenn die Infektionszahlen gerade rasant steigen, haben die Menschen eher Angst, dass sie wegen einer Zwangsquarantäne oder eines zweiten harten Lockdowns verhungern könnten, als dass sie am Virus sterben. Deshalb wollen viele sich nicht testen lassen“, berichtet die 42-Jährige. In den letzten Monaten hat sie tausende Haushalte in Lalbagh besucht und für die Einhaltung der Corona-Schutzmaßnahmen geworben. Sie glaubt, dass nur große Vorsicht einen weiteren harten Lockdown verhindern kann.
Mit der weltweit größten Ausgangssperre versuchte Indien zu Beginn der Pandemie den Corona-Kollaps zu verhindern. Selbst China ist nicht so rigoros gegen die Ausbreitung des Virus vorgegangen. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft waren katastrophal, Staat und Hilfsorganisationen mussten Millionen Menschen mit Lebensmittellieferungen unterstützen. Doch die zunächst relativ geringen Infektions- und Todeszahlen schienen Premier Narendra Modi Recht zu geben. Seit Anfang Juni letzten Jahres wurde der strikte Lockdown jedoch schrittweise gelockert.
Anfang April feierten beim größten aller hinduistischen Feste Millionen Menschen
Erst kürzlich, Anfang April, kamen beim Kumbh Mela, dem größten aller hinduistischen Feste, Millionen Menschen zusammen, um gemeinsam und oft ohne Abstand und Maske zu feiern und im Ganges zu baden. Auch wenn die Teilnahme offiziell nur mit einem negativen Corona-Test erlaubt war, wurden die Feierlichkeiten sowie überlaufene Politikerauftritte vor den in mehreren Bundesgebieten anstehenden Wahlen zu Superspreader-Events – genauso wie gut besuchte Cricket-Spiele, die viele Inder so lieben.
„Der erste strikte Lockdown war notwendig, damit das Gesundheitssystem sich auf die Pandemie vorbereiten und der Bevölkerung der Ernst der Lage klargemacht werden konnte. Dennoch haben viele Menschen mittlerweile die Angst vor dem Virus verloren“, sagt Dr. Suvirajh John, Chefarzt am renommierten Sir-Ganga-Ram-Krankenhaus in Delhi. Nach Angaben des Arztes ist die jetzt in Indien vorherrschende Virus-Mutation ansteckender und wahrscheinlich auch gefährlicher und tödlicher als das Virus der ersten Welle. Viele Krankenhäuser füllten sich deshalb schnell mit Covid-19-Patienten und hunderte Ärzte und Pflegekräfte haben den Kampf gegen Corona schon mit dem Leben bezahlt.
„Wenn das Gesundheitssystem in bestimmten Regionen unseres Landes an seine Grenzen gerät – und das wird passieren –, wird die Regierung mit regionalen Lockdowns reagieren, um den Krankenhäusern eine Chance zu geben, wieder die Oberhand über das Virus zu bekommen. Es wird hart, aber wir werden diesen Kampf gewinnen“, gibt Dr. Suvirajh John sich vorsichtig optimistisch.
Mehr als 118 Millionen Inder wurden bereits mindestens einmal geimpft
In der Hauptstadt Delhi und im besonders betroffenen Bundesstaat Maharashtra, in dem auch die 12,5 Millionen-Einwohner-Metropole Mumbai liegt, wurden bereits Wochenend-Lockdowns und nächtliche Ausgangssperren verhängt. Neben zeitlich und regional beschränkten Lockdowns soll die größte Impfkampagne des gesamten Globus Indien jetzt im Kampf gegen das Virus helfen. Mitte Januar hatte das zweitbevölkerungsreichste Land der Welt begonnen, unter anderem besonders Gefährdete, Mitarbeiter des Gesundheitssystems und Polizisten zu impfen. Mittlerweile sind alle Menschen über 45 Jahren impfberechtigt.
Mehr als 118 Millionen Inder wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums bereits mindestens einmal geimpft – überwiegend mit Covishield, dem in Indien produzierten Impfstoff von AstraZeneca. Laut Plan sollen bis Ende Juli 300 Millionen Menschen immunisiert werden. Doch zuletzt geriet die Kampagne ins Stocken. Weil es keinen Nachschub gab, mussten Impfzentren schließen. „Indien hat die Wucht der zweiten Welle unterschätzt. Beim derzeitigen Impftempo würde es 13 Monate dauern, 60 Prozent der Bevölkerung zu schützen. Die Regierung muss jetzt sehr schnell sehr viel mehr Geld in die Hand nehmen, die Produktionskapazitäten dramatisch erweitern und weiteren Impfstoffen eine Notfallzulassung erteilen“, sagt Dr. Christian Wagner, Indien-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
„India first“: Voraussichtlich bis Ende Juni sollen keine Corona-Impfstoffe mehr exportiert werden
Einer der Gründe für den Impfstoffmangel ist, dass Indien, das sich als Heimat des weltgrößten Impfstoffherstellers „Serum Institute of India“ gerne als „Apotheke der Welt“ bezeichnet, bislang mehr als 60 Millionen Impfstoff-Einheiten in über 75 Länder exportiert hat. Auch die UN-Initiative Covax, die arme Länder mit Corona-Impfstoff versorgt, hat davon profitiert. Als Reaktion auf die Gesundheitskrise im eigenen Land verbot das indische Gesundheitsministerium auch den Export des gegen Corona zugelassenen Medikaments Remdesivir, das schwere Schäden bei Covid-Patienten verhindern soll. Nach dem Motto „India first“ sollen zudem voraussichtlich bis mindestens Ende Juni keine Corona-Impfstoffe mehr ausgeführt werden.
„Als einer der größten Impfstoffhersteller der Welt hat Indien eine Verantwortung, ärmeren Ländern zu helfen. Aber jetzt hat die Regierung zunächst vor allem die Pflicht, die eigene Bevölkerung zu schützen“, erklärt Dr. Suvirajh John. Er weist darauf hin, dass die ganze Welt ein Interesse daran haben sollte, dass Indien seine Impfkampagne beschleunigen kann. „Wir leben in einer globalisierten Welt. Indien hat mehr als 1,3 Milliarden Einwohner. Die Pandemie kann weltweit nur besiegt werden, wenn auch die Schlacht in Indien gewonnen wird.“
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