Herr Pöhlmann, im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein hat ein 49-jähriger Maskenverweigerer einem 20 Jahre alten Tankstellen-Mitarbeiter in den Kopf geschossen und ihn so getötet. Er sagte, die Situation der Pandemie habe ihn stark belastet und er habe ein Zeichen setzen wollen. Nach allem, was bislang bekannt ist: Würden Sie von Terror sprechen?
Matthias Pöhlmann: Ich würde eher von einem unerträglichen Maß der Radikalisierung sprechen, das wir bei dieser Tat in Idar-Oberstein beobachten können. Es scheint ja so zu sein, dass der Täter mit Corona-Verschwörungstheorien gut vertraut ist. Mich hat diese Tat an das erinnert, was vor ein paar Jahren im fränkischen Georgensgmünd passierte. Damals hatte ein rechtsextremer „Reichsbürger“ bei einem Polizeieinsatz auf Polizisten geschossen, ein Beamter kam dabei ums Leben. Das zeigte, welche Gefahr von Menschen ausgehen kann, die bestimmten Ideologien anhängen und sich radikalisieren.
Fürchten Sie, dass sich auch die Szene der Corona-Leugner und Maskenverweigerer, die sogenannte „Querdenken“-Bewegung weiter radikalisiert?
Pöhlmann: Wir wissen noch zu wenig über das Psychogramm des Täters von Idar-Oberstein. Aber eines ist deutlich: Ideologien können eine Macht auf Menschen ausüben. Sie bewegen sich in Weltbildern, die einem Schwarz-weiß-Denken, einem Freund-Feind-Denken unterliegen. Dann fehlt mitunter nur noch ein Auslöser, damit es zu so einer verabscheuungswürdigen Tat kommen kann.
Berichten zufolge folgte der Täter in sozialen Netzwerken und im Internet Politikern am rechten Rand und auch rechtspopulistischen Medienangeboten. Welche Rolle spielen diese?
Pöhlmann: Durch sogenannte Alternativmedien wird ein bestimmtes Klima erzeugt, und die Wortwahl in diesen Medien hat sich radikalisiert. Geistige Brandstifter wie Bodo Schiffmann, eine Führungsfigur der Corona-Leugner-Szene, spricht von Gerichtsprozessen, bei denen Befürworter der staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen zur Rechenschaft gezogen werden sollen, von „Nürnberg 2.0“.
... gemeint sind die Nürnberger Prozesse, bei denen nach Ende des Zweiten Weltkriegs Nazi-Verbrecher wie Hermann Göring angeklagt wurden.
Pöhlmann: Ja. Und damit ist natürlich eine höchst problematische Eskalationsstufe erreicht. Wer sich nur noch in Alternativmedien oder verschwörungsideologischen Telegram-Kanälen informiert, nimmt irgendwann vieles für bare Münze, was er dort liest. Die Botschaft, die immer wieder verbreitet wird, lautet: Alles ist Lüge, es gibt einen geheimen Plan der Regierung, um Menschen zu unterdrücken. So wird ein Bedrohungsszenario erzeugt, das Einzelnen das Gefühl geben kann, sie müssten sich zur Wehr setzen. Dieses Denken hat schon in vielen Köpfen Einzug gehalten, gerade auch bei „Querdenkern“.
Sie waren bei Demos der „Querdenken“-Bewegung. Wurde durch diese Gewalt salonfähig gemacht?
Pöhlmann: Ich habe als teilnehmender Beobachter verfolgen können, dass es bei diesen Demonstrationen ein ausgesprochenes Hasspotenzial gab. Die Aggressivität ist im Laufe der Pandemie noch gestiegen. Man brüllt „Wir sind friedlich!“ – und geht Polizeibeamte und Journalistinnen und Journalisten massiv an. Sie werden bedroht und geschlagen. Ich weiß auch, dass in manchen Fällen die Polizei Medienschaffende nicht ausreichend geschützt hat. Hier müssen wir wirklich aufpassen: Wenn die Pressefreiheit im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten wird, ist das ein unhaltbarer und unerträglicher Zustand. Das darf nicht sein.
Zur Person: Matthias Pöhlmann, geboren 1963 in Hof/Saale, ist Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Er befasst sich seit Jahren mit dem Thema "rechte Esoterik" und beschäftigte sich intensiv mit Verschwörungserzählungen und der "Querdenken"-Bewegung.