2014 war ein Gedenk- und Mahnjahr. Drei historische Ereignisse ragten hervor: der Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, der Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren, der Fall der Mauer vor 25 Jahren.
Medien und Öffentlichkeit haben sich sehr ausführlich mit dem Ende der Teilung Deutschlands und Europas sowie mit den beiden Weltkriegen beschäftigt. Es handelte sich ja um epochale geschichtliche Umbrüche, deren Auswirkungen und Folgen den alten Kontinent und die ganze Welt noch heute prägen. Besonders intensive Diskussionen gab es – zumal vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise und der Konfrontation der EU mit Russland – um die Ursachen des Ersten Weltkriegs und um die Fragen, ob sich 1914 wiederholen kann und welche Lehren gerade auch Europa aus dem Ersten Weltkrieg gezogen hat.
Das Osmanische Reich kämpft ums Überleben
Wie ist die Lage Europas im Jahre 1914? Zwei große Blöcke stehen sich gegenüber. Auf der einen Seite die Kaiserreiche Deutschland und Österreich-Ungarn, auf der anderen Seite Russland und Frankreich, die im Ernstfall auf die Unterstützung Großbritanniens zählen können. Weitere Machtfaktoren von Rang sind Serbien und Italien – beide sind auf Expansion aus. Das Osmanische Reich, eben erst vom Balkan verdrängt, kämpft ums Überleben und steht unter dem wachsenden Druck Russlands.
Es ist ein fragiles, ein sehr komplexes Machtgefüge. Aber noch scheint das Gleichgewichtssystem, das die Handschrift Bismarcks trägt und Europa trotz mancher schwerer Krisen über 40 Jahre des Friedens beschert hat, intakt. Die europäische Wirtschaft floriert. Sicher, man spürt die wachsende Rivalität der einander belauernden Großmächte. Man weiß um den Sprengstoff, der auf dem Balkan, der unruhigsten Region, herumliegt. Aber es gibt bis weit ins Jahr 1914 hinein keine Anzeichen dafür, dass der Kontinent trotz aller Spannungen, nationalistischer Muskelspiele und mühsam bewältigter Krisen wie dem Streit um Marokko oder Albanien auf das Äußerste, auf einen großen und furchtbaren Krieg, zusteuern könnte.
Dann passiert sie doch, die sogenannte „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, aus der all die anderen Katastrophen hervorgehen.
Österreichischer Thronfolger Franz Ferdinand fällt einem Mordanschlag zum Opfer
In Sarajewo, der Hauptstadt des von Österreich-Ungarn annektierten Bosnien-Herzegowina, fällt der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand Ende Juni einem Mordanschlag serbischer Attentäter zum Opfer. Von da an nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Österreich-Ungarn beschließt den Krieg gegen Serbien, um sich des Widersachers ein für allemal zu entledigen. Berlin gewährt dem Verbündeten in Wien Rückendeckung für den Fall eines russischen Eingreifens. Man weiß um die inneren Schwächen des Habsburgerreichs, will aber das Bündnis mit Wien nicht in Gefahr bringen. Das ist der berüchtigte „Blankoscheck“. Russland springt der slawischen Brudernation Serbien bei und macht mobil. Frankreich versichert Russland seines Beistands. Serbien weist, ermutigt von Russland, ein Ultimatum Österreichs zurück.
Das ist die Kette von Entscheidungen, die die Kriegsmaschinerie in Gang setzt. Am 4. August, 38 Tage nach dem Attentat von Sarajewo, marschiert das Deutsche Reich in Belgien ein. Großbritannien kommt Frankreich und Belgien zu Hilfe. London hätte vermutlich auch eingegriffen, wenn die belgische Neutralität nicht verletzt worden wäre. Der große Krieg beginnt – ein Krieg, der 17 Millionen Soldaten und Zivilisten das Leben kosten wird und einer Selbstzerstörung Europas gleichkommt.
Wie „Schlafwandler“ seien die überforderten Staatsmänner in diesen Krieg hineingeschlittert, hat der australische Historiker Christopher Clark in einem aufsehenerregenden, brillanten Buch geschrieben. Was heißen soll: Sie waren sich der Konsequenzen ihres Handelns nicht wirklich bewusst. Sie haben von der Möglichkeit, innezuhalten und sich irgendwie um eine Verhandlungslösung zu bemühen, keinen Gebrauch gemacht. Sie sind blindlings den Drehbüchern gefolgt, die für den Ernstfall von den Militärs geschrieben worden waren und einen fürchterlichen Automatismus in Gang setzten.
Die Staatsmänner hatten keine wirkliche Vorstellung davon, was den Völkern bevorstand. Sie sind, als es Spitz auf Kopf stand, in jene fatalistische Haltung verfallen, wonach der Krieg ohnehin nur eine Frage der Zeit und es besser sei, ihn jetzt zu führen – solange man sich noch überlegen fühlte. Krieg zur Durchsetzung nationaler Interessen und Gebietsansprüche galt damals noch als legitimes Mittel der Politik. Nationalismus und Militarismus waren in ganz Europa verbreitet.
Wer trägt die Schuld am Ersten Weltkrieg?
Wer trägt die Schuld an diesem Krieg, der – am Anfang jedenfalls – die Massen in Berlin, Wien, Sankt Petersburg, Paris oder London in Begeisterung versetzt hat und deutschen Großintellektuellen wie Max Weber und Thomas Mann „wunderbar“ und „reinigend“ vorkam? Wer trägt die Schuld an diesem Gemetzel und an dem millionenfachen Tod auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben eines mörderischen Stellungskriegs, wie er insbesondere jahrelang in Frankreich geführt wurde?
Die bis zum Gedenkjahr 2014 gängige Antwort lautete: das ökonomisch aufstrebende Deutsche Kaiserreich, das sich im Ringen um die kolonialistische Aufteilung der Welt irgendwie zu kurz gekommen fühlte und nach einem „Platz an der Sonne“ verlangte. Mit einem Kaiser Wilhelm II. an der Spitze, der zu nassforschem und prahlerischem Auftreten neigte, die maritime Weltmacht England mit einem Wettrüsten zur See herausforderte und, wie seine Militärs, einen Zwei-Fronten-Krieg gegen Russland und Frankreich durch einen raschen Sieg über Frankreich vermeiden wollte. Mit einem Kanzler namens Bethman Hollweg, der kein Scharfmacher war, aber sich letztlich den Planungen der Militärs unterordnete.
Diese Version von der Haupt- oder gar Alleinschuld Deutschlands, die sich vor allem auf Fritz Fischers 1961 erschienenes Buch „Griff nach der Weltmacht“ stützte und den Diskurs viele Jahre prägte, ist – im Lichte neuer Studien besehen – widerlegt. Der Zweite Weltkrieg, daran besteht nicht der geringste Zweifel, ist von Hitler-Deutschland entfesselt worden. An der Katastrophe des Ersten Weltkriegs jedoch hatten alle Großmächte ihren Anteil. Jede spielte mit dem Feuer, jede war auf Geländegewinn aus, jede hatte ihre Kriegsziele und Interessen. Frankreich etwa wollte Revanche für die Niederlage 1870/71 und Elsass-Lothringen zurückgewinnen. Russland wollte den weiteren Aufstieg Deutschlands verhindern, Österreich-Ungarn sich als Großmacht behaupten. Und alle, nicht nur Deutschland, waren grundsätzlich zum Präventivkrieg bereit.
Interessant und irgendwie bezeichnend war, wie sehr sich etliche deutsche Historiker in der Auseinandersetzung mit Christopher Clark an die These von der Hauptschuld Deutschlands geradezu geklammert haben. Dahinter steckte offenbar die Sorge, die Deutschen könnten eine Neubewertung der Ursachen des Ersten Weltkriegs als eine Art Freispruch empfinden und fortan dazu neigen, wieder in alte nationale Denkmuster zu verfallen oder gar die Schuld am Zweiten Weltkrieg in Zweifel zu ziehen.
Diese in geradezu volkspädagogischer Absicht geäußerte Sorge ist unbegründet. Denn es ändert nichts, aber auch gar nichts an der deutschen Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg, wenn sich herausstellt, dass die Schuld am Ersten Weltkrieg auf mehrere Schultern verteilt ist. Dasselbe gilt im Übrigen für die Feststellung, dass der von Rache diktierte, auf die dauerhafte Schwächung Deutschlands zielende Vertrag von Versailles maßgeblich zur Machterringung Hitlers beigetragen und dessen Propaganda gegen die unglückliche Weimarer Republik befeuert hat. Der sogenannte Friedensvertrag von Versailles, der die Alleinschuld am Krieg Deutschland zuwies, liefert keine Rechtfertigung für den vor 75 Jahren begonnenen Angriffs- und Vernichtungskrieg Hitlers.
Die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg lohnt auch deshalb, weil er ungeheure Umwälzungen mit sich brachte, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind. Mehrere große Imperien sind untergegangen – das zaristische, das osmanische, das habsburgische. Der Aufstieg des Nationalsozialismus und des Sowjet-Kommunismus waren unmittelbare Folgen. Die USA, die den Krieg 1917 entschieden haben, sind zur Welt- und Supermacht geworden. Das britische Empire ist zerbrochen. Europa hat seine führende Stellung in der Welt eingebüßt.
Nach 1918 ist eine Vielzahl neuer souveräner Nationalstaaten entstanden, die sich – siehe die Balkankriege in den neunziger Jahren – teilweise als neue Brandherde entpuppt haben. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Gedenkjahr 2014 zu einem Vergleich mit 1914 einlud – immer verbunden mit der Frage, ob und was die Politik aus der Katastrophe des Ersten Weltkriegs gelernt hat.
Die Ukraine-Krise ist im Kern ein klassischer Konflikt um Einflusszonen, Großmachtstreben und Selbstbestimmung – ein auf den ersten Blick lediglich regionaler Brandherd, der jedoch das Risiko eines Flächenbrands in sich trägt und eine alte Bruchlinie zwischen Mittel- und Osteuropa markiert. Der Abgrund, der sich zwischen dem Westen und Russland in Fragen von territorialer Integrität und Menschenrechten aufgetan hat, gibt Anlass zu großer Sorge.
Europa ist umgeben von einem Ring instabiler, kriegerischer Regionen. Der vor unserer Haustür liegende Nahe und Mittlere Osten ist ein einziges Pulverfass und eine Brutstätte des islamistischen Terrorismus, der sich den Kampf gegen den Westen auf die schwarzen Fahnen geschrieben hat. Ganze Staaten, deren Grenzen im Jahre 1916 von den Kolonialmächten England und Frankreich auf dem Reißbrett gezogen wurden, zerfallen.
Seit dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Kriegs ist an die Stelle eines Systems globaler, bipolarer Stabilität ein „komplexeres Gefüge von Kräften entstanden“, wie es Christopher Clark formuliert hat – ein Gefüge, das unberechenbar wirkt wie jenes im Jahre 1914. Die Risiken, die darin stecken, dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Sie erfordern höchste Wachsamkeit und jede diplomatische Anstrengung.
Es gibt, auch im mittlerweile friedliebenden Europa, keine hundertprozentige Gewähr auf ewigen Frieden. Die schöne Geschichte vom „Ende der Geschichte“ und dem weltweiten Siegeszug der Demokratie, die nach dem Mauerfall erzählt wurde, hat sich als Irrtum und allzu optimistische Einschätzung erwiesen.
Trotzdem: 2014 ist nicht 1914. Vor allem deshalb, weil wir aus der Geschichte gelernt haben.
Erstens: Die Welt verfügt heute über Institutionen der Staatenkooperation, die im Ernstfall erfolgreiches Krisenmanagement gewährleisten. Ob UN, OECD, Nato oder EU: Je enger die Staaten über ökonomische Verflechtungen hinaus in supranationalen Organisationen verbunden sind, desto geringer ist die Gefahr gewaltsam ausgetragener Konflikte.
Zweitens: Krieg als bewusst gewähltes Mittel der Politik – dieses Denken ist in Europa längst überwunden.
Drittens: Man redet heute miteinander, man ist im Krisenfall nicht mehr so sprachlos wie 1914, man hat und nutzt vielfältige Möglichkeiten der Kommunikation – die Bundeskanzlerin Merkel hat seit dem Ausbruch der Ukraine-Krise über 60 Mal mit dem russischen Präsidenten Putin telefoniert.
Ohne diese Gespräche und die vielfältigen Bemühungen, die Kontrahenten an einen Tisch zu bekommen, wäre das Risiko einer Kriseneskalation viel größer.
Viertens: Politik vollzieht sich in den Demokratien der EU unter den kritischen Augen der Öffentlichkeit. Ein nationalistisches Säbelrasseln, wie es in jenem schicksalhaften Sommer 1914 in ganz Europa zu vernehmen war, ist heute ausgeschlossen. Demokratien führen, wie die Erfahrung lehrt, keine Kriege gegeneinander. Unter autoritären Regimen, wie sie am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Regel waren, ist die Versuchung zu kriegerischen Abenteuern und zur Entfesselung nationalistischer Kräfte ungleich höher.
Fünftens, und das ist die wichtigste von Europa beherzigte Lektion aus den beiden Weltkriegen: Die Staaten Europas sind in der nach Osten erweiterten Europäischen Union ganz eng miteinander verflochten. Das heutige Europa ist eine Versicherung gegen Verführung und Gewalt, die EU ist das erfolgreichste Experiment der Geschichte zur Zügelung zwischenstaatlicher Spannungen.
Ja, die EU hat viele Mängel. Sie geht den Menschen mit ihrer Regulierungswut, ihrer Bürokratie und ihren quälend langen Abstimmungsprozessen häufig auf die Nerven. Doch gerade auch die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg führt uns eindringlich vor Augen, was wir an der Europäischen Union als der besten Garantin des Friedens in Europa haben.