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Höchstes deutsches Gericht wird 60: Die Hüter der Verfassung

Höchstes deutsches Gericht wird 60

Die Hüter der Verfassung

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    Die roten Roben der Verfassungshüter und ihre Kopfbedeckung - das Richterbarett - dürften vielen Fernsehzuschauern aus Nachrichtensendungen bekannt sein. Vor 60 Jahren wurde Deutschlands höchstes Gericht gegründet.
    Die roten Roben der Verfassungshüter und ihre Kopfbedeckung - das Richterbarett - dürften vielen Fernsehzuschauern aus Nachrichtensendungen bekannt sein. Vor 60 Jahren wurde Deutschlands höchstes Gericht gegründet. Foto: dpa

    Von Theo Waigel, von 1989 bis 1998 Finanzminister unter Helmut Kohl, erzählt man sich, dass er einst mächtig aufgestöhnt habe, als er auf den Verfassungsrichter Paul Kirchhof angesprochen worden sei. Der Kirchhof, lamentierte der CSU-Chef lautstark, sei sein „teuerster Richter“, der ihm Milliarden gekostet habe.

    In der Tat war Kirchhof, der von 1987 bis 1999 dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts angehörte, für zahlreiche Urteile vor allem in der Familien- und Steuerpolitik verantwortlich, die dem Staat insgesamt teuer zu stehen kamen, aber die Familien stärkten.

    Als zuständiger Berichterstatter für steuerrechtliche Fragen beauftragte er in einem viel beachteten Urteil den Gesetzgeber, dafür zu sorgen, dass die Betreuungs- und Erziehungskosten von Kindern beim Existenzminimum berücksichtigt werden. Zudem setzte er mit Blick auf den besonderen Schutz von Ehe und Familie durch, dass diese in der Steuergesetzgebung mit unternehmerischen Erwerbsgemeinschaften zumindest gleich behandelt oder gar bessergestellt werden. Es dürfe nicht nur Unternehmern erlaubt sein, Einnahmen und Ausgaben zu verrechnen, sondern auch Familien.

    Zwischen Rechtsprechung und Politikgestaltung

    Karlsruhe spricht – und der Bundestag hat zu folgen. Seit seiner Gründung heute vor 60 Jahren bewegt sich das Bundesverfassungsgericht in einem einzigartigen Spannungsfeld zwischen Rechtsprechung und aktiver Politikgestaltung, als sogenannte „Letztinterpreten“ des Grundgesetzes greifen die Hüter der Verfassung immer wieder in die Politik ein und zwingen den Gesetzgeber in zentralen Fragen zu einschneidenden Korrekturen, ja, sie schreiben in ihren Urteilen oftmals sogar dem Parlament reichlich detailliert vor, in welchem Rahmen sich das Gesetz zu bewegen habe.

    Diese Rolle als „Übergesetzgeber“ blieb nicht ohne Folgen und sorgte ein ums andere Mal zu schweren Konflikten zwischen dem Gericht und der Politik. Als das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1961 die Pläne des CDU-Kanzlers Konrad Adenauer für einen regierungsnahen Fernsehsender neben der ARD als verfassungswidrig verwarf, da die Rundfunkgesetzgebung Sache der Länder sei, erklärte Adenauer, das Bundeskabinett habe beschlossen, dass das Urteil „falsch“ sei. Das führte im Gegenzug dazu, dass der Präsident des Verfassungsgerichts, Gebhard Müller, den Kanzler rüffelte und klar stellte, dass kein Verfassungsorgan befugt sei, zu beschließen, ein Spruch der Verfassungshüter entspreche nicht dem Verfassungsrecht. Das war ein offener Machtkampf. Und als Karlsruhe in den 70er Jahren mehrere prestigeträchtige Reformprojekte der damaligen sozialliberalen Koalition verwarf, wurde aus dem Kanzleramt die Äußerung kolportiert, die Regierung lasse sich ihre Politik nicht „von acht A.löchern in Karlsruhe“ kaputtmachen.

    Richter urteilen auch gegen "ihre" Parteien

    Inzwischen hat sich der Ton beruhigt. Die Rolle des Gerichts als Hüter und Interpret der Verfassung, als unabhängiger politischer Akteur und als selbstbewusstes Korrektiv ist unbestritten, zumal die Richter in den roten Roben nie von sich aus tätig werden, sondern nur dann, wenn sie angerufen werden, sei es von der unterlegenen Opposition, einzelnen Abgeordneten oder Bürgern. Seine politische Unabhängigkeit ist sein höchstes Gut. Obwohl die Richter von den Parteien vorgeschlagen und den entsprechenden politischen Lagern zugeordnet werden, hat sie das noch nie daran gehindert, auch gegen „ihre“ Parteien zu urteilen.

    Immer wieder ging es in Karlsruhe um die Achtung, Einhaltung und konkrete Auslegung der Grundrechte, die in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes formuliert sind und als unumstößlich gelten. Mit seinen Urteilen trieb das Verfassungsgericht dabei immer wieder den gesellschaftlichen Wandel voran, passte das Recht an die Zeit an, beispielsweise in dem richtungweisenden Urteil zum Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung 2006, und stärkte permanent die Rechte der Bürger gegenüber dem Staat.

    Konsequent auf der Seite des Gesetzgebers

    Nicht zuletzt stellten sich die Richter in den roten Roben in all den Jahren konsequent auf die Seite der Legislative, des Bundestags, in dessen Kampf gegen eine stetig stärker werdende Exekutive. Nicht die Regierung, auch nicht das Verfassungsgericht, sondern einzig das Parlament sollte der Ort sein, um alle Fragen von großer Tragweite für die Gesellschaft zu entscheiden, stellte das Gericht im so genannten Kopftuchurteil 2003 fest, und zwar in einem Verfahren, das „der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten“ sowie „die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären“.

    Der Übergesetzgeber, der das nicht sein will, spielt den Ball demonstrativ an den Gesetzgeber zurück – dieser muss von seinen Rechten nur Gebrauch machen.

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